Eheprobleme eskalieren in Leonard Bernsteins „Trouble in Tahiti“ nicht so explosiv wie in den wunderbaren amerikanischen Dramen „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ und „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Trotzdem hängt der Haussegen bei Dinah und Sam hinter Bernsteins Unterhaltungsmusik-Idiome kunstvoll amalgamierendem Klanggeschehen schief. Schon gibt das Paar Vollgas Richtung irreparablen Eheschaden. Die Bremse klemmt trotz beider Bemühen um dünnhäutige Kompromisse. Anschweigen entfernt sie also immer weiter vom echten Dialog: „Szenen einer Ehe“ in Gesprächspausen – immerhin ohne häusliche Gewalt unter Alkoholeinfluss. Als Bernsteins „Trouble in Tahiti“ 1952 in Waltham/Massachusetts uraufgeführt wurde, war die amerikanische Kultur noch nicht ganz reif für die künstlerisch hochwertigen Selbstzerfleischungen der 60er, 70er, 80er und 90er Jahre als Kino oder große Opern über die kenntnisreich ausgebauten „Endstationen Sehnsucht“.
Warten auf bessere Zeiten: Bernstein statt Wagner
Ein singendes, swingendes Jazz-Trio macht sich breit zwischen Dinah und Sam, übernimmt Funktionen des Über-Ichs und fragt, warum Glücklichsein zwischen Rasenmäher und Lockenwicklern so extrem schwierig und anstrengend ist. Bernstein erweist sich auch hier als kluger Musikdramatiker: Deshalb durfte seine Musik hier nicht so mitreißend werden wie die Partituren von „West Side Story“,„Candide“ und „On the Town“. Denn der schöne Schein und die Reminiszenzen an den Film „Trouble in Tahiti“, in den Dinah „verreist“, generieren nur frustigen Zeitvertreib. Am Ende steht ein fauler Kompromiss: Das Miteinander schrumpft zum Aneinandervorbei-Warten auf bessere Zeiten. Ein ideales Stück für die aktuelle Situation: „Trouble in Tahiti“ gehört zu den Musiktheater-Werken, die unter Hygienebestimmungen gut machbar sind und im Zustand des Lockdown nochmal ganz andere Sinn-Facetten gewinnen.
Unter Intendant Ralf Waldschmidt verfolgte das Theater der Wohlfühlstadt an der Hase einen gegenwartsorientierten Konzeptkurs mit Entdeckungen (ein Höhepunkt war Magnards „Guercoeur“ 2019) und Uraufführungen wie „San Paolo“ von Sidney Corbett. Es liegt nur an Corona, wenn jetzt anstelle von „Die Meistersinger von Nürnberg“ zum inzwischen 101-Jahre-Jubiläum des Osnabrücker Symphonieorchesters „Trouble in Tahiti“ auf dem Spielplan steht. Bernsteins Ehe-Dramalott setzt die Linie trotzdem kompromisslos fort: Der Stream auf dem eher für Spartenübergreifendes und Experimentelles zuständigen Onlineportal Spectyou ist ein theatrales Vergnügen.
Konflikt-Müdigkeit
Jörg Zysik teilte die relativ schmale Vorderbühne des Theaters am Domhof in zwei gleiche Hälften. Hinter Paravents, die man sich als Skyline einer lockenden Großstadt zurechtdenken könnte, sitzt das Orchester. Erstaunlich, was mit angekratzten Holzstühlen machbar ist: Diese werden zur Wiege ohne Baby oder zur Wartebank vor dem Psychiater-Zimmer, das die Ehepartner – natürlich separat – aufsuchen. Dazwischen schieben sich die kommentierenden Figuren in bunten Arrangements. Erika Simons, Mario Lee und Mark Hamman sind nicht gerade optimale Stimmungsaufheller und erst recht keine Tröster, zumal der von Dinah und Sam angesteuerte Film „Trouble inTahiti“ ein recht krudes Machwerk zu sein scheint.
Lockdown-Monotonie
Der Coup von Guillermo Amayas lebenswahrer Inszenierung am Theater Osnabrück: Dinah und Sam machen sogar in den eigenen vier Wänden ernsthaft auf Social Distance. Beide bleiben brav im eigenen Planquadrat. Dass man mit Schwellenübertretungen zum Partner initiativ agieren könnte, haben beide vergessen. Der Ehedialog reiht sich zum Monologisieren in routinierter Zweisamkeit. Obwohl die Sopranistin Susann Vent-Wunderlich und der Bariton Jan Friedrich Eggers beide goldblond sind, drängt sich der Vergleich mit Doris Day und Rock Hudson auf, dem Traumpaar aller Eigenheime im Global Village. Nur kamen Dinah und Sam schon länger nicht mehr auf die Straße. „Ungepflegt“ wäre übertrieben, aber Spuren leichter Vernachlässigung sind – die Kamera zeigt es neben Augen und Gesichtern – schwerlich zu übersehen. Mit Andeutungen einer aus der Form geratenen Frisur und eines minimalen (Corona-)Bäuchleins, das von Bernstein im Libretto direkt thematisiert wurde, arbeitete Nathalie Himpel mit den Abteilungen Maske und Schneiderei virtuos.
Bröselnde Fassade des Amerikanischen Traums
Das digitale Musiktheater gerät unter An-Hoon Song instrumental und sängerisch hervorragend. Einerseits entdecken Vent-Wunderlich und Eggers in Bernsteins melodiösen Stellen viele, viele Inspirationen fürs Detailgeschehen. Zum anderen wird deutlich, dass Bernstein hier keineswegs schwächer ist als sonst, wohl aber kritischer: Lenny ließ die Fassade des Amerikanischen Traums bröseln, bevor Tennessee Williams, Edward Albee und Jonathan Tolins die Harmoniefassaden gründlich platt machten. In toll gerundeter Balance sieht man das, ohne dass sich die Kalamitäten-Studie zur Tragödie auswalzt. Saubere, deutliche Sache.
Theater Osnabrück
Bernstein: Trouble in Tahiti
An-Hoon Song (Leitung), Guillermo Amaya (Regie), Jörg Zysik (Bühne), Nathalie Himpel (Kostüm), Alexander Wunderlich (Dramaturgie), Susann Vent-Wunderlich, Jan Friedrich Eggers, Erika Simons, Mario Lee, Mark Hamman, Osnabrücker Symphonieorchester