Längst sind die Bühnenwerke des Barockmeisters Händel keine Exoten mehr auf den Spielplänen. Angesichts der formalen Strenge eines durchschnittlichen Opera-seria-Librettos und dessen oft absurden Handlungssträngen kann freilich auch die Frage aufkommen, ob Händels Kosmos allmählich ausgereizt ist. Man muss aber nicht einmal ein erklärter Anhänger des Genies aus Halle an der Saale sein, um darauf mit einem klaren Nein zu antworten.
Noch immer wird darüber gestritten, ob Händels Opern-Typus einfach zu artifiziell ist, als dass die Art und Weise der Gefühlsdarstellung wirklich berühren könnte. Das Authentizitätsproblem der reflektierenden Arie, bei der Figuren vom Bühnenrand aus über Gefühle sinnieren, während die Zeit still steht, können auch starke Regieansätze nicht immer vergessen machen. Aber immer wieder gibt es künstlerische Leistungen, die ob ihrer Glaubwürdigkeit auch dieses Problem überwinden. Als Joyce DiDonato 2016 ihr Video zu „Lascia ch’io pianga“ veröffentlichte, das sie als erschütternd hilfloses Entführungsopfer in einer einsamen Holzhütte mit ihrem Peiniger zeigt, da war es, als sei eine der meistinterpretierten Händel-Arien neu erfunden. DiDonato machte im Hin und Her der Debatte deutlich, dass auch die glückliche Vermittlung der geschlossenen Gefühlswelt einer Barockarie von der schauspielerischen Leistung abhängig und keineswegs von vornherein unmöglich ist.
Blutige Intrige als zeitloses Phänomen
Jüngere Inszenierungen zeigen zudem, wie sich selbst die verworrensten Intrigen-Stoffe Händels schlüssig auf die Gegenwart beziehen lassen. So zeigte Jochen Biganzoli bei den letzten Festspielen in Halle am Beispiel von „Berenice, Regina di Egitto“, wie sehr die inszenierte Machtdemonstration römischer Despoten und die heutige, gezielt konstruierte Selbstdarstellung auf sozialen Medien einander ähneln. Eine vergleichbar starke Leistung gelang Claus Guth in seiner Deutung von „Rodelinda“. Diese feierte im Dezember in Lyon Premiere und ist ab Mai in Frankfurt zu sehen. Guth entlarvt die allzu menschliche Neigung zur blutigen Intrige als zeitloses Phänomen. Durch die stumme Rolle des jungen Flavio, der die skrupellosen Machenschaften der Erwachsenen in Kinderkritzeleien festhält, die auf das Bühnenbild projiziert werden, gerät das Happy End zur unglaubwürdigen Farce. Zugleich zeigt Flavios eigener Hang zu Gewaltfantasien auf, dass jede Generation den Kampf gegen Rachegelüste für sich selbst ausfechten muss.
In Karlsruhe war erst im Februar zu bestaunen, wie sich barocker Opernpomp durch die Jahrhunderte katapultieren lässt, um punktgenau auf passenden, jüngeren Pendants zu landen. Händels 1737 quasi im Rückblick auf sein bisheriges Bühnenschaffen entstandener „Serse“ über den in einen Baum verliebten und dem Prunk sehr zugeneigten König von Persien ist eine Opera seria und durch radikale Verknappung zugleich als Parodie der Gattung konzipiert. Der inszenierende Sängerschauspieler Max Emanuel Cencic konzipierte eine „Serse Show“ mit einer männlichen Diva im Liberace-Stil. Dieser Glamour ist durchaus vergleichbar mit den echten Pferden und lebendigen Tauben, die in Produktionen zur Händelzeit fliegen gelassen wurden und dann in den Logen für Unruhe sorgten, wenn sie sich dort erleichterten.
Große Herausforderungen im Opernschaffen von Georg Friedrich Händel
Solche Ansätze zeigen, wie Inszenierungen von Händelopern gelingen können. Zwar stellen seine Opern große Herausforderungen dar, weil die Textvorlagen an sich keine besonders glaubwürdigen und komplexen Charaktere bieten. Händel war gleichwohl ein früher Meister der Psychologisierung und kompensierte den Mangel mit immer neuen Kniffen. Diese sicht- und erlebbar zu machen, ist die eigentliche, nie letztgültig zu lösende Aufgabe von Instrumentalisten, Sängerdarstellern sowie Regisseurinnen und Regisseuren. Und natürlich trägt auch die Haltung des Publikums ihren Teil dazu bei.