Sie können keine Noten lesen, inszenieren Opern aus dem Reclam-Libretto und wundern sich dann, dass es mitunter zwischen den gesungenen Texten minutenlange Orchesterzwischenspiele gibt, für die sie sich nun auch noch spontan etwas einfallen lassen müssen. Wäre da vielleicht ein Video gefällig? Die Rede ist von Schauspielregisseuren, die seit Jahrzehnten zu den Lieblingen der Opernintendanten gehören, aber ihr Handwerk der Musiktheaterregie nie gelernt haben. Zum Glück sind so manche der Theaterexperten musikalischer als das Klischee uns lehrt. Aber Fachfrauen und -männer sind sie nicht.
Paradigmenwechsel in der Opernregie?
Jetzt allerdings deutet sich ein Paradigmenwechsel an. Zunehmend beackern auch Choreografen das weite Feld der Opernregie. Das hat in der Regel einen entscheidenden Vorteil, denn sie wissen, wie man eine Partitur entschlüsselt und musikalische Abläufe in eine Bewegungssprache übersetzt. Und sie besitzen eine ausgeprägte Sensibilität für Musik. Überwältigende künstlerische Ergebnisse muss der Wissenstransfer vom Ballett in die Oper nicht bringen. Das Engagement von Sasha Waltz für die Regie von Wagners „Tannhäuser“ brachte in Berlin außer hübschen Arrangements einen begrenzten Erkenntniszuwachs. Vielleicht kommt es für diesen Ansatz der Opernregie im Besonderen darauf an, Tanzmeister mit den passenden Werken zu konfrontieren. Bei unserer Auswahl choreografierter Opern im Reigen der Frühjahrspremieren haben wir auf dieses Kriterium besonderen Wert gelegt.
Gerade die Barockoper scheint nach tänzerischen Anverwandlungen zu schreien. Denn ihre Musik ist vielfach von Tanzsätzen inspiriert oder enthält Szenen, die im 18. Jahrhundert in der Tat getanzt wurden. Die französische Mischform des Opéra ballet steht beispielhaft hierfür. Das heutige Theaterdenken in spartenübergreifenden Projekten scheint die damalige Tendenz der Durchlässigkeit geradewegs ins 21. Jahrhundert zu tragen. Und so wird nun in Würzburg mit Purcells englischer Barockoper „King Arthur“ eine Produktion umgesetzt, für die die Sparten Ballett, Musiktheater und Schauspiel des Mainfranken Theaters zusammenarbeiten. Regie und Choreografie übernehmen Dominik von Gunten und Kevin O’Day, der seit der aktuellen Spielzeit Artist in Residence in der Mainmetropole ist.
Amalgam diverser Kunststile
In Mannheim nimmt sich Tanzchef Stephan Thoss unter dem Titel „Sanssouci“ zu ihrer Zeit nicht szenisch gedachter, aber tänzerisch inspirierter Kompositionen an und choreografiert Bachs „Musikalisches Opfer“ und Händels Dixit Dominus. Der aus Leipzig stammende Tänzer gilt als einer der wichtigsten Künstler seines Fachs. Längst eine lebende Legende ist John Neumeier. Der Amerikaner in Hamburg, dessen Compagnie seinen Namen trägt, wird an der Staatsoper Glucks „Orphée et Eurydice“ als veritables Gesamtkunstwerk der Opernregie umsetzen, trägt er doch für Inszenierung, Choreografie, Bühnenbild, Kostüme und Licht die Verantwortung.
Ein Weltstar der Tanzwelt, der viele Erfolge im Opernfach verbuchen konnte, wird in München Glucks „Alceste“ in neuem Licht erscheinen lassen: Der flämisch-marokkanische Meister Sidi Larbi Cherkaoui amalgamiert mit Vorliebe Elemente diverser Kunststile wie Kulturen. Am Oldenburgischen Staatstheater wiederum praktizieren zwei Kollegen das nicht minder spannende Modell der engen Regie-Kooperation. Ballettchef Antoine Jully und Regisseur François de Carpentries setzen im Team Rameaus 1760 uraufgeführte Ballett-Oper Les Paladins um.
„Ballett mit Gesang“
Abseits des Barock wird das Staatstheater Stuttgart alle drei Sparten des Hauses an der Umsetzung von Die sieben Todsünden beteiligen, die von ihren Schöpfern Brecht und Weill dezidiert als „Ballett mit Gesang“ bezeichnet wurden. Die Schauspiel- und Opernregisseurin Anna-Sophie Mahler inszeniert, Louis Stiens choreografiert. Mit einer Schauspielerin, einer Performerin sowie Tänzern und Opernsängern gilt für das Personal auf der Bühne die Devise der Multiperspektive.