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Opern-Kritik: Tiroler Festspiele Erl – La Bohème

Karneval ums Krankheitsdrama

(Erl, 27.12.2024) Startenor Jonas Kaufmann feierte nahe der Münchner Heimat seinen Einstand als Intendant. Sängerisch gibt es da so manche Entdeckungen. Die Katalanin Bárbara Lluch allerdings offenbart: Sie wäre eher eine flotte Operettenregisseurin.

vonRoland H. Dippel,

Top Ten-Opern wie „La Bohème“ und „Der Liebestrank“ gab es bei den Tiroler Festspielen Erl schon vor Jonas Kaufmann, der am 27. Dezember im ausverkauften Festspielhaus als Nachfolger von Bernd Loebe seine erste Intendanz begann. Der aus München stammende und damit gute voralpenländische Ortskenntnisse einbringende Favorittenor setzt auf die traumhafte Naturkulisse mit Wildem Kaiser sowie zugkräftige Lockangebote für das Publikum. Puccinis Hitstück „La Bohème“ am Ende des Puccini-Jahrs ist natürlich eine todsichere Bank, weil sie immer und überall zieht. Gerade deshalb drängen sich in dieser Konstellation Vergleiche mit anderen „Bohème“-Premieren der letzten Monate auf. Die Erwartung steigt naturgemäß mit den Qualitätserlebnissen und Hommagen der Feuilletons.

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Orchestrale Puccini-Flaute

Das Orchester der Tiroler Festspiele Erl kann unter seinem neuen Chefdirigenten Asher Fisch nicht ganz so punkten wie zwei Wochen früher das Sinfonieorchester Münster unter Golo Berg. Fisch dirigiert, als hätte es die Aufwertung Puccinis vom „Verdi des kleinen Mannes“ zum genialen Frühmodernen und großen Experimentator durch Musikwissenschaft oder die beeindruckende Reihe von Dirigier-Veredelungen seit Herbert von Karajan nie gegeben. Eine persönliche Sicht auf Puccinis von französischen Esprit-Imitiationen durchlichterten Lyrizismus und Puccinis pikante Rebellionen gegen die sogenannte italienische Schule war ebenfalls kaum zu erkennen.

Szenenbild aus „La Bohème“
Szenenbild aus „La Bohème“

Was dem Erler Orchester diesmal an Opéra-comique-Präzision und Fisch an artistischer Achtsamkeit für impressionistische Farben fehlte, glichen vor allem die Kostüme von Clara Peluffo Valentini reichlich aus. Die armen Künstler der Pariser Boulevards und den Chor steckte sie in Westen und Kleider von explosiver Buntheit, den Poeten Rodolfo gar in eine Kapitänsjacke. Stellenweise wetteiferten die Kostüme mit Mar Flores Flos Videos wie aus einem LSD-Rausch. Das glättet die polaren Gegensätze von Luigi Illicas und Giuseppe Giacosas Libretto aus Murgers Episodenroman von 1851, welche auch der katalanischen Regisseurin Bárbara Lluch schnuppe sind: Katastrophe reibt sich nicht am Kolorit und Puccinis fast sadistische Süße nicht an emotionalen Schärfen.

Armut ist tabu

Lluch nivelliert auch die Pole Konvention contra Regie-Avantgarde, Alt contra Neu, Regie contra Musik. Sie lässt den Sängerinnen und Sängern den Vorrang gegenüber inhaltlich-expressiven Brüchen und huldigt damit einer eigentlich überwundenen Flockigkeit für das 1896 in Turin uraufgeführte Hybrid-Melodram. Selbst wenn „Carrousel“ drübersteht: Das „Merry Christmas“ am Pariser Montmartre gerät zum Karneval ums Krankheitsdrama. Eine größere Mädchengruppe aus dem Kinderchor der Schule für Chorkunst München wird zu kleineren Doubles der letal tuberkulösen Mimì mit blauem, eine Spur zu elegantem Kleid und rotem Häubchen. Armut bleibt unmerkbar. Lluch bevorzugt mehrere Regie-Sports, die Präzisierung sozialer Topographien gehört nicht dazu. Anders als das Bühnenbild von Alfons Flores. Das Bohème-Groupie Mimì mit seiner Gier nach vollem Leben vor unvermeidlich nahem Tod stirbt an einer geschlossenen Tür im eisgrauen Raum.

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Szenenbild aus „La Bohème“
Szenenbild aus „La Bohème“

Internationales Ensemble

Immer wieder steht Mimìs Krankenbett herum. Die an italienischen Opernhäusern zwischen Lyrik und Bravour imponierend präsente Sara Cortolezzis singt die Sterbeszene mit berückendem Schimmer. Sie ist beim Kennenlernen mit Rodolfo recht initiativ, gibt im Momus-Bild eine herzlich intensive Granate von Lebensgier. Die schönste Überraschung in Kaufmanns „Bohème“-Cast war die an Stimmwärme und lyrischer Intensität mit Mimì definitiv gleichwertige Victoria Randem als Musetta. Lluch führt sie als Skandalnudel ein und versieht die Figur erst viel später mit tieferen Emotionen. Long Long als Rodolfo ist eine von mehreren kurzfristigen Neubesetzungen für „Bohème“ und die folgende konzertante „Puritani“-Aufführung: Schöne Stimme, die Fisch an manchen Stellen ins unsachgemäße wie unnötige Forcieren treibt. Zuverlässig und charakterneutral agieren Tommaso Barea als schon tenoraler Marcello ohne Palette und Pinsel,Liam James Karai als Musiker Schaunard wie mit Cash aus einem Engagement auf dem Aida-Kreuzfahrtschiff und Jasurbek Khaydarov als Colline mit Pennäler-Eselsmütze. Lluch wäre gewiss eine flotte Operettenregisseurin.

Insgesamt zeigen sich die Tiroler Festspiele bei Jonas Kaufmanns Start unter Optimierungsbrise. Die Programmhefte enthalten jetzt Werbung. Überall blickfängert das Oster- und Sommerprogramm mit „Parsifal“, Benjamins „Picture A Day Like This“ und dem Einakterabend „Herzog Blaubarts Burg“ mit „Die geliebte Stimme“. Es gibt noch Karten für fast alle Winter-Veranstaltungen. Hoffentlich ist das nur Initialzündung. Gemessen am Applaus haben die Tiroler Festspiele Erl für die nahe Zukunft affirmativen und begeisterungsstarken Rückenwind.

Tiroler Festspiele Erl
Puccini: La Bohème

Asher Fisch (Musikalische Leitung), Bárbara Lluch (Regie), Alfons Flores (Bühne), Clara Peluffo Valentini (Kostüme), Olga Yanum (Chor), Maksim Matsiushenkau (Kinderchor), Urs Schoenebaum (Licht), Mar Flores Flo (Video), Mercè Grané (Choreografie), Long Long, Sara Cortolezzis, Tommaso Barea, Victoria Randem, Liam James Karai, Jasurbek Khaydarov, Piotr Micinski, Peter Kirk, Kinderchor der Schule für Chorkunst München, Chor der Tiroler Festspiele Erl, Orchester der Tiroler Festspiele Erl

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