Mut, Trotz und unbändigen Freiheitsdrang zeichneten Ludwig van Beethoven aus: Er war ein komponierender Homo politicus. Fraglos schlug sich sein revolutionärer Geist in seinen Schöpfungen nieder: zumal im Friedrich Schiller nachlauschenden Finale seiner „Sinfonie Nr. 9“ und ihrer Vision „Alle Menschen werden Brüder“, aber auch in seiner einzigen Oper „Fidelio“, in dem er dem Sturz eines Tyrannen das Lob der Liebe gegenüberstellt. Diese Oper von Beethoven atmet den Geist ihres Komponisten. Doch ist sie auch eine Oper über Beethoven? Lassen sich neben dem politischen Sprengstoff, der zwischen den Notenzeilen steckt, auch seine persönlichen Hoffnungen, seine privaten Träume, sein ureigenes Glücksverlangen aus dem Werk ablesen? Bei seinem Klassikerkollegen Mozart ist die Musikwissenschaft in dieser Frage uneins: Biographie und Musik lassen sich nur schwer übereinanderlegen: Der Salzburger konnte im Herzen zu Tode betrübt sein und doch himmelhochjauchzende Arien schreiben. Bei Beethoven dürfte das anders sein. Bekennt hier ein Künstler in seiner Kunst seine Gefühle, reflektiert er seine Einsamkeit, spricht er in Tönen von seiner Isoliertheit? Lässt sich seine Musik psychologisch lesen?
Berührende Einblicke in das Innenleben des Wahlwieners aus Bonn
Eva Buchmann spürt diesen Fragen in ihrer behutsamen wie entschiedenen Regie in der Tonhalle Zürich nach. Das 1895 erbaute Konzerthaus ist natürlich kein Opernhaus. Ihr Konzept kann und muss sie hier somit in einer reduzierten Klarheit in die Tat umsetzen. Und aus der Beschränkung eine Tugend machen. Die gesprochenen Dialoge (die heute eher eine Hypothek denn ein Kapital des Werks sind) hat sie gestrichen und durch Passagen aus Beethoven-Briefen ersetzt, zudem mit Zitaten des Heiligenstädter Testaments gemischt, die berührende Einblicke in das Innenleben des Wahlwieners aus Bonn geben. Die Textauswahl wirkt bestechend sinnstiftend: Wenn es im „Fidelio“ zu Beginn um singspielmunter unschuldige Liebeständelei zwischen Marzelline und Jaquino geht, wird die Szene durch die Zeilen eines putzmunter aufgeräumten jungen Beethoven eingeleitet, der an seinen Verleger Simrock schreibt: „Sind Ihre Töchter schon groß, erziehen Sie mir eine zur Braut…“. Leichtigkeit bestimmt auch noch den Brief an seine mittlerweile verheiratete Jugendliebe Eleonore von Breuning, die Marzellines Arie „O wär ich schon mit dir vereint“ einleitet. Tiefgründiger, philosophischer und düsterer werden Beethovens Briefe, wenn sich seine Taubheit ankündigt und verschlimmert, wenn sich alle Liebes- und Heiratshoffnungen zerschlagen — und wenn die Oper dementsprechend immer deutlicher vom heiteren, biedermeierlichen Singspiel ins ernste Musikdrama eines Wagner-Wegbereiters umschlägt.
Eine Regie der feinen kleinen Zutaten von Blicken wie der klugen Kunst des Weglassens
Erschütternd wirkt es, wenn sich der Komponist im zweiten Akt nach Florestans Arie „Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille“ mit Worten aus dem Heiligenstädter Testament outet: „Wie ein Verbannter muss ich leben, (…) es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben.“ Der große schweizerische Schauspieler Stefan Kurt las die Texte vom linken Bühnenrand aus so unsentimental wie anteilnehmend. Und szenisch akzentuierte Eva Buchmann das dramaturgisch von Ben Hurkmans unterfütterte Konzept mit den feinen kleinen Zutaten von Blicken wie der klugen Kunst des Weglassens. Das Quartett des ersten Akts „Mir ist so wunderbar“ löst sie szenisch durch den intensiven Blickkontakt zwischen Marzelline und Leonore aus. Oder: Im Gefangenenchor sitzt der Pizarro-Tyrann stoisch wie ein Hagen in der „Götterdämmerung“ und mit geschlossene Augen neben den Herren der famosen Zürcher Sing-Akademie und verdeutlicht so allein durch die Art und Weise, wie er dort statisch verharrt, den Satz der Gefangenen: „Wir sind belauscht mit Ohr und Blick.“
Paavo Järvi erweist sich als ein Meister der packenden wie zwingend logischen Disposition von dramatischer Zuspitzung
Sensibel ist der dramaturgisch-szenische Zugriff mit Paavo Järvi abgestimmt, der als Music Director des Tonhalle Orchesters Zürich diesen „Fidelio“ bereits anno 2020 zum Beethoven-Jahr anlässlich des 250. Geburtstag des Komponisten hatte auf die Bühne bringen wollen. Die Pandemie kam dazwischen. Es zeigt sich: Entweder lösen nun die Texte die Musik durchweg zwingend aus, oder aber, wo der dramatische Spannungsbogen es verlangt, über die einzelnen Nummern hinweg größere Zusammenhänge zu stiften, folgen die Szenen, Ensembles und Arien ohne Unterbrechung aufeinander: Vollkommen logisch ruft Leonore auf das eilend zum Mord an Florestan anstiftende Duett von Pizarro und Rocco dann direkt „attacca“ ihr „Abscheulicher! Wo eilst Du hin?“ aus. Paavo Järvi erweist sich nicht nur in solchen Scharniermomenten als ein Meister der packenden wie zwingend logischen Disposition von dramatischer Zuspitzung. Die Ouvertüre geht er in straffer Klarheit an und vertraut dabei doch ganz auf die bauchig-bassige Klangwucht des Tonhalle Orchesters Zürich. Das aufwändig sanierte Konzerthaus-Juwel mit seinem romantisch runden Mischklangideal stärkt ein Beethovenbild, das sich verblüffend unterscheidet von jenem, das Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen entwickelt hat: Letzteres wirkt weitaus deutlicher ruppig artikulationsgeschärft und historisch informiert.
Beethovens Oper als aufbrausendes sinfonisches Drama
In Zürich findet Paavo Järvi eine Art dritten Weg zwischen Furtwänglers agogischem Atem und Harnoncourts Klangrede. Er scheint Beethovens Oper als aufbrausendes sinfonisches Drama aufzufassen, dessen Vehemenz den Sängern nichts schenkt. Beethovens innere Unruhe wird gleichsam körperlich spürbar, seine Charakterzüge werden überaus deutlich: Was die gelesenen Texte ausdrücken, das sagt auch die Musik. Paavo Järvis Primat des dramatischen Pulses zu folgen, heißt dann auch, keine weitere Ouvertüre vor dem utopischen C-Dur-Finale einzufügen – dies würde dem Sturm und Drang auf das Ende hin entgegenstehen. Umso wirkungsvoller geraten die Stellen, in den Paavo Järvi mit dem wunderbaren Tonhalle Orchester Zürich die Zeit stillstehen lässt: im Malen des mystischen Steichernebels, der den Gefangenenchor einleitet; im Ausmusizieren der nächtlichen Düsternis von Florestans Arie; im breiten Tempo rubato zu Leonores die Utopie greifbar machendem „O Gott! Welch ein Augenblick!“, dem das Chorfinale alsbald jubelnd folgt.
Sängerischer Besetzungsluxus
Die handverlesen hochkarätige Solistenriege stellt sich in den Dienst dieses Beethovens Lebens mitdenkenden „Fidelio“. Jacquelyn Wagner singt die Leonore mit im reinen Wortsinn jugendlich dramatischem als Sopran – mit stupenden jubelnden Höhen; sie schenkt der Wiedergängerin der unsterblichen Geliebten warme Weiblichkeit. Michael Schade ist mit seinem jung gebliebenen Heldentenor ein imposanter Florestan, der das Crescendo auf „Gott“ mustergültig ausführt. Mit finster flammendem Bassbariton gibt Shenyang dem furchteinflößenden Diktator Don Pizarro vokale Gestalt. Christof Fischesser balanciert mit seinem leicht geführten Bass als Kerkermeister Rocco wie ein geschickter Mitläufer im System des Bösen zwischen Naivität und Verschlagenheit. Patrick Grahl wertet den Jaquino mit seinem prägnant präsenten Tenor auf. Katharina Konradi aber macht mit ihrem gar nicht soubrettigen, vielmehr genuin lyrischen Sopran die Marzelline zur zweiten, vollgültigen weiblichen Hauptfigur einer emanzipierten, entschlossenen, anpackenden jungen Frau. Tareq Nazmi ist mit seinem längst im schweren Wagnerfach angekommenen Bass als Don Fernando der pure Besetzungsluxus, lässt seine Prachtstimme nicht nur wohlig gerundet, sondern mit idealer Textverständlichkeit strömen.
Tonhalle-Orchester Zürich
Beethoven: Fidelio
Paavo Järvi (Leitung), Eva Buchmann (Konzept & Regie), Ben Hurkmans (Dramaturgie), Selina Tholl (Kostüme), Jacquelyn Wagner, Michael Schade, Christof Fischesser, Katharina Konradi, Patrick Grahl, Shenyang, Tareq Nazmi, Stefan Kurt, Zürcher Sing-Akademie, Tonhalle Orchester Zürich