An dieser Neuproduktion des Theaters Lübeck zum 300. Geburtstag des genialen Musikdramatikers Christoph Willibald Gluck stimmt einfach alles – auch wenn das zeichenhafte Art déco der Bühne, die Heinz Hauser der tragischen Zauberoper Armide (1775) baute, auf den ersten Blick dem Klangwesen der Pariser Reformoper widerspricht. Ist Glucks Seelendrama um die männerbannende Circe, die sich den Kreuzrittern kämpferisch entgegenwirft und der Liebe anheim fällt, doch einen Quantensprung von der Symbolsprache und normierten Affektschilderung der Barockoper entfernt.
Die Aufwärtsspirale des Bühnen-Laufstegs, die sich – gespickt mit Pfeilen des Hasses und der Liebe – um eine phallische Lichtsäule windet, ist samt ihren Drehungen und rot-blauen Farbwechseln indes unaufdringlich genug, um die Ohren offen zu halten für die Wunder der Partitur. Die Christoph Spering als eminent stilkundiger Gast am Pult (der Mendelssohns Bearbeitung von Bachs Matthäuspassion wiederfand und erstaufführte) den Lübecker Gesangsmimen, dem mit zwei Naturtrompeten bestückten Philharmonischen Orchester und vollends dem entzückten Publikum taktvoll und wirkmächtig erschloss: als immerwährendes Wechselbad dramatischer Auf- und Abschwünge, als Achterbahn zwischen heroischen, höllischen und arkadisch-erotischen Landschaften des Gemüts.
Ihren Konflikt zwischen Bindungsscheu und Verlustangst im Visier, zentriert der österreichische Theaterregisseur, Bühnenautor und Romancier Michael Wallner seine erste Operninszenierung um die inneren Kämpfe der Armida – mythische Schwester der Penthesilea, die in Tassos Epos Das befreite Jerusalem als Widerpart des unbesiegbaren Kreuzritters Rinaldo auftrat und schon im 17. Jahrhundert eine beliebte Opernheldin war. Wallners Kunstgriff: er gibt der wehrhaften Jungfrau ein knieverletztes kleines Mädchen bei – Projektion insgeheim ersehnter Mutterschaft? Stummes Spiegelbild ihrer wunden Seele jedenfalls, das ihr in den Arm fällt, als sie zum tödlichen Speerstoß auf den eingeschläferten Ritter ausholt, den sie wider Willen liebt.
Im übrigen deutet Wallner – zwischen Charakteren, Folien, Geistern und Dämonen klar unterscheidend – das Stück triftig als „Frauenoper“, worin die Weiblichkeit den Schicksalsfaden spinnt, während sich der königliche Ohm (Gerard Quinn) bloß aufplustert und die Ritter eher trottelig daherkommen. Der sinnbetörte, tenorschöne Gotteskrieger Renaud (Daniel Jenz) ähnelt einem tumben Jüngling namens Parzival. Als tragische Titelfigur gelingt Sabina Martin (jugendlich-dramatischer Sopran) eine zwischen Trotz und Trauer changierende, stimmlich wie darstellerisch berührende Charakterstudie. Was sich in ihr abspielt – ihre Stimme weiß es am besten. Und auch der Chor, er ist das Echolot ihrer Ängste. Höhe- und Nervenpunkte des unikalen Opernabends sind die Momente ihrer Wandlung: der grelle Auftritt des Hasses (teuflisch: Wioletta Hebrowska), den sie herbeiruft, um ihn zu verbannen, und ihr überirdischer Weltabschiedsgesang, nachdem sich die Liebe des einzig Geliebten als Trug erwies – das wohl längste und kräftezehrendste Sopransolo vor Isoldes Liebestod.
Bleibt nur ein Wunsch: die Oper nochmals zu erleben.
Theater Lübeck
Gluck: Armide
Ausführende: Christoph Spering (Musikalische Leitung), Michael Wallner (Inszenierung), Heinz Hauser (Bühne), Tanja Liebermann (Kostüme), Joseph Feigl (Chor) Leonor Amaral / Imke Looft, Frauke Becker / Imke Looft, Wioletta Hebrowska, Annette Hörle, Sabina Martin, Evmorfia Metaxaki, Steinunn Soffia Skjenstad; Kong Seok Choi, Daniel Jenz, Steffen Kubach, Marc McConnell, Gerard Quinn, Jonghoon You, Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
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