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Opern-Kritik: Hamburgische Staatsoper – La Fanciulla del West

Wenn der Bösewicht zum guten Menschen wird

(Hamburg, 1.2.2015) Mit kitschfreier psychologischer Dichte erzählen Vincent Boussard, Vincent Lemaire und Christian Lacroix Puccinis Western-Oper erfolgreich neu

vonPeter Krause,

Eine Gemeinschaft der Entwurzelten, die fern der Heimat ihr Glück suchen. Ein unseliger Männerbund, in dem sich sexueller Notstand mit einer niedrigen Gewaltschwelle paart und im Alkoholkonsum Abend für Abend einen Ausweg sucht: Welch ein Seismograph seelischer Traumata war doch dieser Puccini. Und welch ein Feingefühl beweist das Inszenierungsteam um Regisseur Vincent Boussard, Bühnenbildner Vincent Lemaire und Kostümdesigner Christian Lacroix in der präzisen Zeichnung dieser Männergesellschaft, die sich in der unglücklichen Extremsituation der Frauenlosigkeit befindet.

Da werden aus dem Kollektiv der Goldgräber immer wieder Einzelschicksale herausgeschält und berührende kleine Szenen angerissen, wie jene des noch sehr jungen Mannes, der auszog Gold zu schürfen und am Ende des Tages doch nur hilflos nach seiner Mutter ruft.

Kein naturalistischer Opern-Western

Die Wildwest-Oper La Fanciulla del West bietet maximales Kitschpotenzial – zumindest dann, wenn ein Regieteam der naheliegenden Versuchung erliegt, einen möglichst naturalistischen Opern-Western auf die Bühne zu hieven. In der Hamburger Neuinszenierung wird das zum Glück vermieden. Man setzt auf das Allgemeingültige, Übertragbare, entschlüsselt die Psychologie der Personenkonstellationen. Wo und wann diese Geschichte denn nun spielt, bleibt dabei in der Schwebe. Das in den Übertiteln zum italienisch gesungenen Text ziemlich deutsch mit „Lager“ übersetzte Camp der Goldgräber könnte zu einem Bergwergstollen gehören, sich also jenseits des Sonnenlichts unter Tage befinden. All die zerlumpten Gestalten könnten aber auch geradewegs jenem Staatsgefängnis entstammen, in dem ein Herr Fidelio dem Verhungern und Verdursten nahe ist.

Ein Leben in Grenzsituationen

Entscheidend ist, dass hier geschickt ein Leben in Grenzsituationen nachgebildet wird. Holzhammeraktualisierungen – die Auffanglager, Wüstenabschnitte oder Inseln der Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlinge an der europäischen wie der mexikanisch-amerikanischen Grenze drängten sich hier auf – sind dazu gar nicht nötig. Solche Übersetzungen in unsere Realität kann das Publikum schließlich selbst leisten – und tut dies auch.

Endlich eine Frau!

Minnies in den wilden Männerhaufen hineinplatzender Auftritt ist vor diesem Hintergrund sogleich ein Hammerereignis. Endlich eine Frau! Sie bringt nicht nur Farbe ins triste Spiel, sondern auch die allen und jedem geltenden Herzenswärme, Zuwendung, Anteilnahme. Sie hält für die Herumlungernden gar eine Bibelstunde ab. Ihre Begegnung mit dem frustrierten alternden Sheriff, der natürlich schon länger als die anderen ein Auge auf die Schöne geworfen hat, wird zum hochspannenden Duett einer werdenden Erlöserin mit einem Mann, hinter dessen rauer Schale des bösen Baritons sich ganz viel Verletzlichkeit und Sehnsucht auftut.

Den Mann erlösen

Erlösen aber muss Minnie einen anderen: den unter falschem Namen auftretenden Banditen Dick Johnson alias Ramerrez. Sie schenkt dem Verbrecher Vertrauen. Eine für ihn ziemlich neue Erfahrung. Der lässt die Kasse des Saloons unberührt. Und der Böse wird so langsam zum Guten. Minnie, die selbst über ihre begrenzte Bildung klagt, hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist ein starkes Mädel, das die christliche Botschaft besser verstanden hat als jene Priester, die sich in diese Einöde eh nie verirren würden.

Grellheit und überwältigendes Melos

Mit kühnen Harmonien, überwältigendem Melos, dem groben Pinsel des Affekts, einiger Grellheit durchaus und doch auch mit manch feinen frühimpressionistischen Farben hat Puccini diese Geschichte erzählt. Maestro Carlo Montanaro spürt all dem mit den Philharmonikern der Hansestadt in großer Leuchtkraft und Emphase nach. Freilich auch mit einer Lautstärke, die zwar durch die Partitur legitimiert scheint, die Sänger dennoch oft überfordert.

Starke Sänger, nur nicht stark genug

Emily Magee spielt die Minnie mit einer Überzeugungskraft, die größer nicht sein könnte. Ihr Sopran indes hat dieses große Strauss-Leuchten in der Höhe, aber weniger den Puccini-Stahl in der Mittellage, um sich stets gegen die orchestralen Wogen durchzusetzen. Carlo Ventre als ihr Erretteter wartet mit stupenden Spitzentönen auf, darunter klingt sein heldischer Tenor derzeit wie ein Reibeisen – hoffentlich nur die Folge einer abklingen Erkältung, die ihn auf vielen Proben fehlen ließ. Dies wiederum sieht man: Ventre steht, sitzt und singt, eine echte Rollendurchdringung bietet er nicht. Ganz anders sein Widersacher: Andrzej Dobber, der mit seinem durchschlagskräftigen Bariton bewegend vielfarbig singt, ist ein Sheriff Jack Rance, wie er differenzierter nicht vorstellbar ist. Eine gute Oper – und La Fanciulla del West ist eine solche, allen Vorurteilen zum Trotz – kennt keine simplen good guys und bad guys. Puccinis Verismo-Wahrhaftigkeit liegt darin, schillernde Charaktere zu zeichnen. Da darf der Bösewicht sogar zum guten Menschen werden!

Hamburgische Staatsoper

Puccini: La Fanciulla del West

Ausführende: Carlo Montanaro (Leitung), Vincent Boussard (Inszenierung), Vincent Lemaire (Bühne), Christian Lacroix (Kostüme), Emily Magee, Carlo Ventre, Andrzej Dobber, Jürgen Sacher, Davide Damiani, Philharmoniker Hamburg, Chor der der Staatsoper

Weitere Termine und Infos zur Staatsoper Hamburg finden Sie hier.

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