„Ist’s recht, auf einer Kugel Lauf / Zwei edler Herzen Glück zu setzen?“ Das fragt am Ende von Carl Maria von Webers Freischütz der Eremit. Michael Thalheimer setzt in seiner Neuinszenierung des Freischütz an der Berliner Staatsoper im Schillertheater nicht nur das Glück des Paars Agathe und Max auf den Lauf der Kugel, sondern das Leben und Handeln aller ihrer Mitspieler. Das Einheitsbühnenbild ist der Lauf einer alten, schartigen Flinte, die Mündung ist die Bühnenrampe. Der Zuschauer blickt also von Anfang bis Ende der knappen zwei Stunden – Thalheimer hat die Sprechdialoge auf das Nötigste verkürzen lassen – in das dunkle Rohr, das ihm alle Gestalten der Romantischen Oper ausspuckt: Max, Agathe, Ännchen, Kaspar, Kilian und all die anderen, die da diesseits und jenseits der spießigen Dorfidylle ihr Glück versuchen. Sind diese Figuren den Freikugeln vergleichbar? Sind sie genauso vom Zufall gelenkt, willkürlich durch die Welt geschleudert und ohne jeden Einfluss auf ihr Schicksal?
Der Antagonismus von göttlicher Vorsehung und teuflischem Zufall
Einzig Agathe ist als einsame Dulderin davon überzeugt, dass im Himmel „ein „heil’ger Wille“ walte, die Welt „nicht bloßem Zufall“ diene. Um diesen Widerstreit geht es jedenfalls bei Weber und seinem Librettisten Friedrich Kind, und augenscheinlich fokussiert auch Thalheimer alles auf den Antagonismus von göttlicher Vorsehung und teuflischem Zufall in der Einbildungskraft des Menschen. Das hat zur Folge, dass alles Genrehafte, viele naturalistische Details der Volksoper der einheitlichen Idee zum Opfer fallen – nicht immer zum Besten des Stücks.
Die männlichen Hauptfiguren erwachen kaum zum Leben
Michael Thalheimer ist bekannt für seine Unterordnung alles bühnenmäßig Sichtbaren unter eine solche Idee, doch auf diese Weise erwachen hier insbesondere die männlichen Figuren kaum zum Leben. Vielleicht ist die Premierennervosität zu groß: Auch die Staatskapelle unter Sebastian Weigle sowie der anfänglich diffuse Chor finden sich in absoluter Konzentration noch längst nicht in der Ouvertüre und der ersten Szene, sondern erst bei Max’ Arie „Nein! Länger trag’ ich nicht die Qualen“ zusammen. Der Tenor Burkhard Fritz singt danach den Max mit müheloser, trotz Lyrismus weit tragender Stimme und schönem Legato, doch kaum präsentiert er ein selbstbewusstes Spiel, welches die Zerrissenheit der Figur sichtbar machte.
Die Reduktion der Dialoge schadet der Charakterisierung der Figuren
Es ist erstaunlich, dass der Regisseur Thalheimer, der Mann der minimalistisch-präzisen Zeichnung, die Freischütz-Hauptfigur nicht mit charakterlichen Zuschreibungen und einem Bewegungsprofil auf die Bühne begleitet, ebenso den Bariton Falk Struckmann als Kaspar. Dem „schwarzen“ Jägerburschen mangelt es trotz Kunstblut in der Wolfsschlucht an jeglicher Dämonie und Triebhaftigkeit, stimmlich erfüllt Struckmann geflissentlich seine Aufgabe, ohne je in den Bann zu schlagen – auch dies nicht zuletzt wegen des Verzichts auf fast sämtliche charismatische Dialoge.
Bei Agathe und Ännchen wird die Anlage der Inszenierung deutlicher
Wenn die stimmlich gewohnt biegsame Dorothea Röschmann dem Teufel (omnipräsent: der Schauspieler Peter Moltzen) ihr imaginäres Kruzifix auf dem Rücken entgegenträgt, wenn Anna Prohaska das Ännchen mit schauspielerischer Präsenz und körperlicher Beherrschtheit sowie lupenreiner Textartikulation als eine Marionette des Teufels Samiel (weshalb eigentlich?) zeichnet, dann wird immerhin ahnbar, wo die Anlage dieser Inszenierung hinführen könnte, wenn Thalheimer alle Protagonisten ebenso erfolgreich auf eine ganzheitliche Sicht des Gespensterstücks eingeschworen hätte.
Staatsoper Berlin
Weber: Der Freischütz
Ausführende: Sebastian Weigle (Leitung), Michael Thalheimer (Inszenierung), Olaf Altmann (Bühne), Katrin Lea Tag (Kostüme), Olaf Freese (Licht), Martin Wright (Chöre), Katharina Winkler (Dramaturgie). Roman Trekel (Ottokar), Victor von Halem (Kuno), Dorothea Röschmann (Agathe), Anna Prohaska (Ännchen), Falk Struckmann (Kaspar), Burkhard Fritz (Max), Jan Martiník (Eremit), Maximilian Krummen (Kilian), Peter Moltzen (Samiel), Staatskapelle Berlin, Staatsopernchor