Die Komische Oper Berlin verkündete schon lange, dass sie „nach“ (nicht „mit“) Heinrich August Marschners zwischen Freischütz und Fliegender Holländer entstandener Dialogoper Der Vampyr von 1828 etwas im Schilde führt. Deshalb konnte sich niemand in der Premiere hinausreden, nichts von den abnormen Vorstößen in kollektive Ängste, in Extreme des Vor- und Unbewussten zu wissen, die da alsbald kommen sollten. Die Rechnung ging auf: Blut, Schmodder, Ekel, Glibber und „Bähhhhh“ geben prallvolle 77 Minuten lang den ersten plastisch-eindrucksvollen Vorgeschmack auf Dantes Höllenkreise: „Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet!“
Der Applaus am Ende dieser Fassung ohne Dialoge war laut und groß und schloss die klischeehaft kompatiblen Schauderhorror-Jingles von Johannes Hofmann ein, die man als „ergänzende Kompositionen“ aufmopste. Für etwa 20% der Anwesenden blieb keine Wahl: Sie verharrten stumm und waren sich einig, dass Buhs oder andere Missfallenskundgebungen kaum hinreichender Ausdruck für dieses Hybrid-Fragment sind: Allerhöchstens 50 % gab es von Marschners Partitur zu hören – als brillante Zirkusmusik mit instrumentaler und vokaler Bravour, aber ohne Schmelz und Emotion.
Neue theatrale Kategorie
Zombie-Show, Slapstick, musikalischer Steinbruch, Trümmerhaufen der romantischen Ideenlandschaft – das alles wurde aus den trefflichen Regie-Ansätzen: Antú Romero Nunes wollte Polidoris Erzählung, Marschners Oper und Johannes Hofmanns Horror-Jingles konzentrieren auf die Demonstration der Funktionalitäten von individuellen, kollektiven und urbanen Ängsten, von Alpträumen und Grusel. Auch von dem, was dahinter steckt – wie der Angst vor Überwältigung durch anonyme Massen an Monstern, Invasoren, Fremden, Dämonen, auch denen des eigenen Vorbewussten. Unterstützt hatte ihn als erfahrener Musiktheater-Experte Hausdramaturg Ulrich Lenz. Los geht es, indem der bleiche Vampir Lord Ruthven auf dunkler Bühne nach vorne kommt. Sofort krallt er sich den marktfrischen Appetithappen aus der ersten Parkett-Reihe. Der jungen Frau reißt er erst die Haut vom Gesichte, Blut und wirre Blicke ergießen sich aus offenen Augen. Appetizer!
Alsbald wühlt er ihr mit der blanken Hand das schmutzrote Gedärm aus dem Bauch, Hauptgang der Schlachtschüssel. Dann kommen noch die anderen (von der Deko-Abteilung des Hauses plastisch-lecker aufbereiteten) Innereien und Organmassen dran. Diese Dessert-Schmankerln bleiben liegen. Dazu singt der Vampir vom Zwang (da ist Marschner original schon nah am Trend), dass er nur durch das Leersaugen von zwei (im Original drei) Saft-Bräuten den untoten Zustand bis auf weiteres verlängern kann. Sein Gegenspieler und Eid-Abhängiger Aubry (in britischen Karos) schaut zu. Erfährt dann gleich von den inneren Nöten des zu Lebens- und Blutgier Verdammten, der mit schwarzem Haarschopf, knochig langen Fingern, Gierblick und bleich-schwammig geschminktem Oberkörper auf dem Orchestersteg paradiert. Von oben und vorne entern indes schwarze Plastikspinnen den Zuschauerraum.
Hautfetzen zur Hochzeitsparty
Der Chor hinten in Aufmachung wie zu einem Fest in Fledermaus– oder Traviata à la KO. Doch diesmal fehlen beim Singen eh nur störende Augäpfel, da schleifen am Boden lepröse Hautfetzen, klaffen organtiefe Wunden und Narben verunzieren Gesichter, Leiber, Zungen. Wurde so schon im Chorsaal geprobt? Einige finden’s toll, andere eher monoton. Abwechslung schaffen später die Szenen um die Frauen – bereits in Stokers Dracula und Hoffmanns Elixiere des Teufels sind Tollhaus und geile Superhexen koloristische Farbtupfer zum vampirischen Gestöber! Durch die vexiermäßige Vervielfältigung des Bühnenportals in die Bühnentiefe schafft Matthias Koch mit Sarg und Spinnennetz-Ornamentik Abwechslung. Da stürzt sich Nichole Chevalier, als Malvina helle Lichtgestalt, im Röschenkleid mit Blümchenunterrock und Pumuckl-Haarputz in die gekonnte Paraphrase eines Simone Kermes-Auftritts. Der Papa unter dem phallisch getürmten Zylinder hilft mit Fußtritten auf Aubrys Gesäß, auf dass der auf Malvina liegend noch besser in sie stochern kann.
Provokation? Langeweile!
Das provoziert nicht, konfrontiert wenig, langweilt schnell. Wenn die Untoten zur Verlobung Malvinas mit Ruthven anrücken, ist die Luft längst raus, macht das Bühnengeschehen gähnen trotz der adretten Kostümparade von Annabelle Witt. Wenig erfrischend geht es immer so weiter: Emmy, das zweite Vampyr-Opfer, hat als bebrillte Grand-Prix-Finalistin mit ihrem spießigen Bräutigam aus dem hinteren Parkett großen Auftritt. Hoffentlich liegt es nur an der ungewohnten Spielsituation, dass ausgerechnet die düster-suggestive Ballade Emmys so intonationstrübe und etwas unstudiert herüberkommt. Spätestens wenn Ruthven auch Emmy zerlegt, denkt sich’s nahezu zwangsläufig Richtung Absage an einen Lustmörder des im Grunde erzromantischen Vicco von Bülow: „Eine gewisse Erregung während der Tat ist alles, was ich verspürte. Schon dem anschließenden Zerlegen der Leiche konnte ich keinen Geschmack abgewinnen und nur mit Unlust erinnere ich mich an das Tragen der schweren Pakete und das stundenlange Graben im Stadtrandgebiet“.
Konsum-Häschen und Amtsschimmel
Schade um das überreiche Interpreten-Potential: Was für ein erotisierender Vampyr wäre Heiko Trinsinger in den hier weggeblendeten Nachtwanderungen Marschners zwischen Dialog, Melodram und Rezitativ… was für eine zerrissene Malvina die hinter kühler und distinguierter Emphase so hoffmannesk abgründige Nichole Chevalier… was für ein im Wertekonflikt versehrter Aubry Zoltán Nyari im Sprung vom Zirkusprinz zum Klemmi… Dann der wie ein Regenbogen-Geist daher wandelnde Vollblutakteur Jens Larsen, Ivan Turšić als blässlicher Amtsschimmel und die zum Konsum-Häschen degradierte Emmy von Maria Fiselier …
Anthony Hermus hält nach seiner GMD-Zeit in Dessau, wo er einen Ring schmiedete, Glanz und Gloria der Vampyr-Partitur wohl für allzu schmale Hausmannskost: Schön ist, wie er sich mit dem Orchester auf die an der Behrensstraße unübertrefflich gepflegte „Kunst der Oberfläche“ einpeitscht. Das Brio der Bläser, die klaren Streicherläufe tragen bei zur an Offenbach meisterhaft geschulten Rasanz, doch Marschners zwischen Freischütz-Dämonie und Loewe-Sentimentalität so spannend schillernde Partitur trifft das nicht ganz. Schade zudem, dass die in Urtext-Fragen sonst so spitzfindige Komische Oper nicht über die verwendete teutonisierende Pfitzner-Bearbeitung hinausdachte. In Marschners Original gibt es noch mehr zirzensischen Belcanto, der Johannes Hofmanns Horror-Floskeln hätte besser konvenieren können. Dennoch, es zeichnet sich schon ab: Als Trend-Konsumation für metropolitane Opern-Hipster ist Der Vampyr im Marketing-Plan der Komischen Oper sicher schnell unentbehrlich.
Hackebeil und Hackfleisch
Im Programmheft gibt es interessante O-Töne über Grusel und Angst und Vampirisches bis zu Stephenie Meyer. Alle Vampirologen, Nerds, Blockbusters und Fantastiker kennen den Unterschied zwischen „Terror“ (dem Grauen ohne Gewissheit) und „Horror“ (die faktische Bedrohung von Körper und Sein). Und da gilt das Gleiche für alle Genres: Das lockende Dämmern von Lust und Gefährdung macht es, nicht die permanente Penetration durch visuellen Schwall. Vielleicht bekommen wir das auch beim nächsten Mal von Antú Romero Nunes zu sehen. Schön wär’s, weil die Anzeichen vorhanden waren mit den beiden rührenden Zombie-Kindern, die sich liebesbedürftig an die Erwachsenen hängen. Wenn man das bis zu den üblichen Handreichungen von fettem Pfahl und scharfem Hackebeil im Finale nicht schon längst vergessen hat…
Komische Oper Berlin
Marschner: Der Vampyr
Anthony Hermus (Leitung), Antú Romero Nunes (Regie), Matthias Koch (Bühne), Annabella Witt (Kostüme), Diego Leetz (Licht), David Cavelius (Chöre), Heiko Trinzinger, Nichole Chevalier, Jens Larsen, Zoltán Nyari, Ivan Turšić, Maria Fiselier, Orchester, Chorsolisten und Komparserie der Komischen Oper Berlin
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