Kunst als geschützter Raum: Wer nach einem Musterbeispiel für dieses Bild sucht, der wird im größten Drei-Sparten-Theater Europas fündig. Das mag auch daran liegen, dass die Oper Stuttgart von einem Künstler geleitet wird: Jossi Wieler, Jahrgang 1951, ein leiser, kluger, präziser, behutsamer Mann, ist 2011 angetreten, um das rasant rotierende Karussell der großen Namen im Opernbetrieb anzuhalten. In Stuttgart, so die Vision des Schweizer Regisseurs, der 2009 als Nachfolger des in mehrfacher Hinsicht unglücklich agierenden Albrecht Puhlmann berufen wurde, sollte ein Gegenentwurf zum Klassik-Starrummel entstehen: ein Ort der Entschleunigung, eine Arbeitsstätte mit einem festen Kreis von Regisseuren und Dirigenten, einem breit aufgestellten, hochklassigen Solistenensemble und mit einem Repertoire, das die Gattung zwischen neu gedeuteten bekannten Opern und unbekannten, also wiederentdeckten Werken – wie etwa im Februar Niccolò Jommellis Berenike – oder Uraufführungen, zeitgemäß neu definiert.
„Opernklösterle“ spotteten anfangs einige zynisch über den proklamierten hermetischen Musiktheater-Zirkel – vielleicht auch mit einer Spur Neid. Dass die kritischen Stimmen indes in Wielers dritter Spielzeit leise geworden sind, liegt vor allem daran, dass auch in der Oper Stuttgart nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht werden sollte. Entscheidend hierfür ist nicht zuletzt der Abgang von Andrea Moses zum Ende der letzten Saison gewesen: Die Hausregisseurin hatte gemeinsam mit dem Intendanten, seinem Chefdramaturgen und Ko-Regisseur Sergio Morabito, der gut vernetzten Operndirektorin Eva Kleinitz sowie dem Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling das Profil des Hauses prägen sollen – doch ihre Inszenierungen, die quirlige Cenerentola einmal ausgenommen, waren eher selten auf dem Niveau anderer Neuproduktionen. Moses‘ Weggang hat nun Plätze freigeräumt, die es etwa möglich gemacht haben, in dieser Spielzeit Andrea Breth für die Inszenierung von Wolfgang Rihms Jakob Lenz zu gewinnen: Die Produktion wurde prompt zum Publikums-Renner – und in die Zelle des Opernklösterles drang reichlich Glanz von außen, der wiederum für entsprechende Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Das Publikum folgt den neuen Wegen inzwischen gern
Auch das in manchen Stimmfächern gut, womöglich gar ein bisschen zu üppig bestückte Ensemble, das wundervolle Talente wie Ana Durlovski oder Diana Haller birgt, wird mittlerweile immer wieder verstärkt durch prominenten Besuch von auswärts. So nimmt die Oper Stuttgart im Opernkarussell heute eine Position nahe des Zentrums ein, auf der es zwar rund geht, aber nicht ganz so wild wie andernorts.
Einen richtigen Bühnen-Flop gab es nur einmal: bei Rudolf Freys mut- und blutlosem Nabucco. Ansonsten sorgte vor allem das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito in den letzten Spielzeiten für höchste Standards: mit einer ernst genommenen, tiefenpsychologisch ausgeleuchteten Sonnambula Bellinis, mit der Uraufführung von Mark Andres vielschichtiger Oper Wunderzaichen, mit Strauss’ Ariadne auf Naxos, bei der Vorspiel und Oper auf zwingende Weise in der Reihenfolge ihrer zeitlichen Entstehung gegeben wurden, sowie mit der hinreißenden Wiederentdeckung von Edison Denisows Der Schaum der Tage. Etliches wurde aus der Puhlmann-Ära übernommen und Rückgriffe auf die große Ära Klaus Zeheleins, unter dem Wieler und Morabito als Opernregie-Duo zusammenfanden, gibt es ebenfalls – jeweils sowohl im personellen als auch im Produktionsbereich: Wieler ist ein Intendant, der für den Blick nach vorne eine starke Verankerung im Vergangenen sucht.
Das Publikum bringt zunehmend zum Ausdruck, dass es diesen Weg goutiert: In seiner dritten Spielzeit trägt Jossi Wieler trotz streckenweise leicht monochromer Spielpläne eine spürbare Woge der Sympathie. Bis 2018 haben Stadt und Land unlängst den Vertrag des Intendanten verlängert. Die lange schon geplante Sanierung des Stuttgarter Opernhauses wird wohl erst danach stattfinden.