Glückt dem neuen Leitungsteam mit dieser Eröffnungspremiere an der Hamburger Dammtorstraße aus dem Stand ein glorreicher und zugleich zukunftsweisender Musiktheaterabend? Kent Nagano und Georges Delnon müssen an der Staatsoper schließlich nicht nur vieles besser machen, sondern auch so manches anders. Denn ihrer enorm fleißigen Vorgängerin Simone Young mangelte es in den zehn Jahren ihrer nicht zuletzt für sie selbst zur Belastung werdenden Doppelaufgabe als Generalmusikdirektorin und Intendantin vor allem an einem: an Haltung. An dem für das einst international führende Haus grundlegenden Geist.
An der jeden Mitarbeiter, von der Garderobenfrau bis zur Chefin, beseelenden Frage: Welche Rolle soll das Musiktheater in dieser Gesellschaft spielen? Warum muss sich eine von Hafen und Handel beherrschte Stadt einen so teuren Tempel der Kunst leisten? Welches sind die bewegenden Themen, die ein Opernhaus heute verhandeln muss?
Nagano feilt an der Feinheit der französischen Farbmischungen
Auch wenn es an diesem Abend zumal von Seiten des Regisseurs nur wenige Andeutungen einer Antwort gab, sind Anspruch und Ethos der nun neu Verantwortlichen gleichsam ganzheitlich zu spüren. Die wollen was. Und die können was. Den ersten verwackelten Choreinsätzen zum Trotz. Kent Nagano beweist jedenfalls, dass in den Philharmonikern mehr Qualität steckt, als man im Durchschnitt in den vergangenen Jahren von ihnen gehört hat. Er missversteht dramatische Intensität nicht mit wachsender Lautstärke, sondern entwickelt sie ganz aus der Feinheit der französischen Farbmischungen.
Der feinsinnige, ruhige Ästhet am Pult hat da also sogleich einen heißen Draht zu seinem Orchester geschmiedet, das unter Dirigentenkollegen gemeinhin als schwierig gilt. Die Chemie zwischen Leiter und Kollektiv scheint also zu stimmen. Wenn jetzt das kontinuierliche Arbeiten, Polieren und Verschönern einsetzt, war die durchaus auch kritisch kommentierte Wahl des Amerikaners sehr wohl ein erste.
Archaik und Avantgarde – mit Berlioz zurück zum Ideal von klassizistischer Klarheit und emotionaler Wahrhaftigkeit
Naganos Berlioz klingt zwar so gar nicht nach extra großer Grand Opéra, Nagano scheut die effektprall patriotische Geste der Partitur, statt sie pflichtschuldig zu bedienen, doch das ist gar kein Manko, sondern Entscheidung, Konzept. Kein Berlioz als Meyerbeer für Feinschmecker also wird hier aufgetischt, sondern die edle Kost eines Klangfarbenzauberers, der sich neben seinen Hausgöttern Beethoven und Shakespeare in Les Troyens zu allererst zu jenem Vorvater und Meister der Reformoper bekennt, der sein eigentlicher Fixstern ist: Christoph Willibald Gluck.
Dessen Ideal von klassizistischer Klarheit und emotionaler Wahrhaftigkeit, abseits von allem sängerischen Virtuosenzierat, wird an diesem Abend so deutlich wie sonst nur selten. Berlioz glückt in dieser grandiosen Musik schließlich die seltene Vereinigung von Archaik und Avantgarde. Seine Arien sind streng nach altem Da-Capo-Prinzip gebaut: Eine Nummer – Arie, Chor, Duett, Ensemble, kommt nach der anderen, ohne wie zeitgleich bei Wagner, sinfonisch überwölbt zu werden. Doch klanglich und instrumentatorisch ist das alles 1858 schon echte Zukunftsmusik, die geradewegs bis in den Impressionismus vorausweist.
Gekürzte Neufassung von Les Troyens
Naganos fester Fokus auf genau dieser Klangseite der Partitur hat freilich auch mit der dramaturgischen Entscheidung des Teams zu tun, die Oper aller Grand Opéra-Herrlichkeit der großen Ballett-Einlagen und Pantominen zu entkleiden. Dazu hat der französische Komponist Pascal Dusapin die große Schere angelegt und eine gekürzte Fassung der Oper erstellt. Der so entstehende nähere, auch intimere Blick zumal auf die beiden tragischen Frauenfiguren des Stücks, Kassandra und Dido, birgt Vorteile der wachsenden Glaubwürdigkeit, dem identifizierenden Andocken der Hörer an die Schicksale der Figuren. Psychologischer Realismus aber, wie ihn ein Giuseppe Verdi seinerzeit längst genial praktizierte, ist dem Stück nicht wirklich abzuringen. Die filmschnittige Dramaturgie der Bilderrahmen-Tableaus mit all den netten Nebenfiguren ist und bleibt die Grundanlage des Stücks.
Das marseillaiseschnittige Marschmotiv kommt zu kurz
Wirklich problematisch an der Neufassung und ihren vielen Schnitten ist indes, dass ein zentrales vielsagendes Leitmotiv (Berlioz versagt sich sonst fast durchgehend dieser Gefühlswegweiser durch die Partitur) in deutlicher Reinform nur in den letzten Takten ertönt: der troyanische Marsch, der als Signet des männlichen Machtstrebens und politischen Pathos als krasser Gegenpol zur weiblich weichen Musik der Kassandra und Dido fungiert. Dass der schwärmerisch lyrische Teil der Tenorarie des Äneas fehlt, ist schade, soll sicher einer mutmaßlich kulinarischen Rezeption der Oper vorbeugen und den Helden Äneas noch unsympathischer machen, als er das eh ist. Geschenkt. Doch das Fehlen der männlichen Gegenwelt, musikalisch vermittelt durch das marseillaiseschnittige Marschmotiv, ist ein schwerwiegender Eingriff.
Starke Sänger
Sängerisch ist die Welt an der Dammtorstraße in dieser Premiere mehr als in Ordnung. Catherine Naglestad ist trotz spröder Sopran-Mittellage und Tiefe eine intensiv scharfe Kassandra-Mahnerin; Elena Zidkova eine klangsatt samtige Mezzo-Dido, die ihrer tollen Röhre nur noch viel mehr Zwischentöne abgewinnen müsste; Torsten Kerl ein trotz Indisposition seinen Tannhäuser-Tenor ins Französische Fach zurücknehmender Äneas.
Schwache Regie-Reduktion
Allzu viel Konzentration auf das Wesentliche kennzeichnet die Reduktions-Regie des Michael Thalheimer. Der Schauspielmann scheut es sichtlich, die sängerischen und orchestralen Emotionen zu doppeln. Das erleichter den Musikgenuss, schärft freilich das Profil der Figuren so gar nicht. Merklich ist seine Regiehandschrift nur in den wenigen Leerstellen der Musik. Seine Behutsamkeit hat durchaus etwas Wohltuendes, zumal in der Statik der Chorszenen (zumal die scheppernden Soprane kommen bei Berlioz an ihre Grenzen) wünscht man sich denn doch mehr Beherztheit. Und ob die Antikenbefragung des Berlioz – mit ihrer bewegenden Begegnung der beiden so unterschiedlichen Flüchtlinge Dido und Äneas – nicht auch ein Licht auf unsere Gegenwart wirft? Thalheimer überlässt es dem mitfühlenden Hörsinn des Publikums, das Offensichtliche zu sehen.
Glorreich geriet diese Premiere nicht, aber glückvoll, geistvoll und mit der klaren Ansage: Mit Hamburg ist in Operndingen endlich wieder zu rechnen.
Hamburgische Staatsoper
Berlioz: Les Troyens
Ausführende: Kent Nagano (Leitung), Michael Thalheimer (Inszenierung), Olaf Altmann (Bühne), Michaela Barth (Kostüme), Torsten Kerl, Catherine Naglestad, Elena Zidkova, Katja Pieweck, Kartal Karagedik, Julian Prégardien, Philharmonisches Staatsorchester, Chor der der Staatsoper
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