Das Schönste an Klischees ist, dass sie meistens ein Fünkchen Wahrheit enthalten. Das Stereotyp vom feurigen Südamerikaner wird gern bemüht, wenn es darum geht, die energetische Leidenschaft beim Musizieren zu beschreiben. Einer, der es wissen muss, ist Andrés Orozco-Estrada. Der Kolumbianer gilt als hoffnungsvoller neuer Stern am Dirigentenhimmel – ganz ohne Wettbewerb oder Förderung. Zurzeit noch Chef beim Tonkünstlerorchester Niederösterreich und beim Baskischen Nationalorchester, hat er sich nach und nach eine Weltreise für die kommenden Saisons zusammendirigiert: Als Chef wechselt er 2014 nach Houston und zum Hessischen Rundfunk nach Frankfurt, daneben stehen Debüts in London, Amsterdam und Oslo auf dem Programm.
Liegt die große Ausbeute guter Musiker aus dieser Region der Erde nun wirklich an der guten musikalischen Erziehung in Südamerika? Orozco-Estrada bejaht ohne Umschweife: „Wenn wirklich alle jungen Menschen gefördert werden und Musik machen, dann werden die Talente auch leichter gefunden.“
Die Suche nach einer vom Leben und von Emotionen geprägten Interpretation
Sieht man Orozco-Estrada beim Dirigieren zu, fallen einem unwillkürlich Gustavo Dudamels vitamingeschwängerte Lustkonzerte ein. Sich an den erfahrungsmürben europäischen Interpretationsqualen zu weiden, ist seine Sache nicht. Er verleibt sich vielmehr den Kanon der auch hierzulande gängigen Literatur ein, um ihn dann seiner frischzellengekurten Art anzuverwandeln. Ein Das-macht-man-aber-so gibt es bei ihm nicht. Interpretation als Auslegung, sehr wohl, aber aus einem anderen Blickwinkel. Charakteristisch ist daher auch die Antwort auf die Frage, wie man es so weit bringen könne in so kurzer Zeit: „Mit viel Arbeit, mit viel Partiturstudium, mit guter Vorbereitung. Am Ende aber mit viel Hingabe, Emotionen, aber auch Glück.“ Zur Präparation gehört für Andrés Orozco-Estrada, auf den Nachhall der Musik in seiner Gefühlswelt zu achten. Diese Hingabe ersetzt auf wundersame Weise das, was ein hiesiger Maestro als kulturelle Verwurzelung in die Kinderstube gelegt bekommt. Das aber reicht längst nicht mehr aus. „Nicht jeder, der viel studiert, hat automatisch eine interessante Interpretation. Das bekommt man mit, vom Leben, von Gott oder von wo auch immer. Es ist das, was Talent meint. Ein gewisses Charisma.“
Mit 19 nach Wien gekommen, suchte sich Andrés Orozco-Estrada bewusst kein Vorbild, sondern sog das Handwerkszeug in sich hinein. „Treibende Kraft war, dass ich unbedingt weg wollte aus Bogotá, wo ich schon zwei Jahre studiert hatte. Es fehlte der richtige Dirigierunterricht, das ist heutzutage in Kolumbien anders.“ Da Orozco-Estrada keinen Mentor im herkömmlichen Sinne hatte, darf heute behauptet werden, er dirigiere wirklich als er selbst. „Ich habe mir wohl überall her mein Rüstzeug beschafft und bin damit auf Entdeckungstour zu mir selbst gegangen.“ Die Wahl fiel auf Wien nicht aus Verklärung, sondern letztlich aus praktischen Gründen. „Wo kann ich meine Träume am besten realisieren?“ So einfach ist das.
Von Bogotá nach Wien – ein schwieriger Start
Zunächst versuchte sich der junge Dirigent, der schon in Kolumbien im Alter von 14 Jahren sein erstes Jugendorchester geleitet hatte, mit Chorsingen und Unterrichten über Wasser zu halten, die Familie ist bis heute alles andere als wohlhabend, „allein das Flugticket zu zahlen war für sie eine Herausforderung“. Das Leben sowieso. Er würde Zeit brauchen, sagte man ihm. „Es hieß, die Aufnahmeprüfung besteht man prinzipiell nicht beim ersten Mal.“ Wen wundert’s, dass einer wie er dieses Prinzip auf den Kopf stellte?
Heute schon kann Orozco-Estrada auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Während er in seinen Chefpositionen auf die künstlerische, dramaturgische Entwicklung des Orchesters achten muss und nicht nur nach seinen eigenen Wünschen gehen darf, kann er als Gastdirigent durchaus seine Steckenpferde reiten. Dabei ist ihm die Moderne wichtiger als zum Beispiel die südamerikanische Musik, als deren Anwalt er sich nicht fühlt. „Ich benutze sie nicht zur Profilierung, sondern versuche mich ja als Künstler zu finden, und da bin ich gerade woanders. Wenn es gut passt, bin ich froh, das machen zu können. Ich schäme mich ja nicht für meine Heimat. Ich kenne das Repertoire und fühle mich ihm verbunden, aber ich will da in keine Spezialistenecke gestellt werden.“