Sie ist eine Sopran-Favoritin von Christian Thielemann und seit Jahren erfolgreich in den Höhenregionen einer europäischen Spitzenkarriere. Selbst wenn Camilla Nylund sich nach ihrer ersten „Tosca“-Serie in Helsinki auf weitere Vorstellungen in dieser Partie an der Wiener Staatsoper freut, bleibt ihre Kerndomäne weiterhin das deutsche Fach – von Beethoven und Weber über ihre Repertoire-Leuchttürme Wagner und Strauss bis zu Schönberg.
Während der Proben zum 35-minütigen Monolog-Showdown in Schönbergs „Erwartung“ an der Oper Frankfurt habe sie schon mal über dessen Schwierigkeiten geflucht, gibt sie lachend zu. An der von internationalen Sängerinnen als schwierig betrachteten deutschen Diktion lag das aber nicht. Camilla Nylund bestätigt exemplarisch, dass Finnen oft über eine außergewöhnliche Sensibilität für Fremdsprachen verfügen. Den ersten Deutsch-Unterricht erhielt sie mit vierzehn Jahren, die Sprache beherrscht sie akzentfrei: mit einem hellen Klang, getragenen Vokalen und deutlichen, aber nie überspitzten Konsonanten. Ihre Diktion bringt Sonne dorthin, wo sie in der Musik sogar in melancholischen Momenten unbedingt sein soll – das heißt in die Opern von Richard Strauss, für die ihr die Dresdner Semperoper, die Oper Frankfurt und die Berliner Lindenoper das fast alleinige Residenzrecht anvertrauen. Für Camilla Nylund war es eine enttäuschende Zäsur, als die inzwischen auf CD erschienenen „Gurrelieder“ Anfang März 2020 zwar noch in Dresden, aber leider nicht mehr bei den Salzburger Osterfestspielen aufgeführt werden konnten. Ein echtes Corona-Abenteuer erlebte sie, als sie nach einem Einspringen als „Arabella“ an der Wiener Staatsoper im letzten Moment mit dem Auto an ihrem Wohnort Dresden ankam, bevor die Grenzen wegen des Lockdowns geschlossen wurden.
Immer Lust auf Neues
Die derzeit gefragteste Madeleine in „Capriccio“ bricht nach ihren ersten Konzerten in der Isarphilharmonie München mit Strauss‘ „Vier letzten Liedern“ ins schwere Wagner-Fach auf, ohne sich vorerst von Glanzpartien wie der Marschallin in „Der Rosenkavalier“, der Kaiserin in „Die Frau ohne Schatten“ (wieder bei den Münchner Opernfestspielen 2022) und Elsa in „Lohengrin“ (wieder bei den Bayreuther Festspielen 2022) zu verabschieden. Seit Jahrzehnten ist die Oper Zürich aufgrund ihres für ein internationales Spitzenhaus optimalen, weil nicht zu großen Raumvolumens neben dem Bayreuther Festspielhaus der ideale Einstiegsort für Extrempartien. Dort erobert sich Camilla Nylund ab Frühjahr 2022 erst die Isolde und in den folgenden Spielzeiten unter Gianandrea Noseda und in der Regie von Andreas Homoki die Brünnhilde in „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“.
Von schweren Herausforderungen lässt sie sich mit ihrer Lust auf Neues nicht abschrecken. Ungeduldigen Ehrgeiz hatte Nylund aber nie. Wenn sie sagt, dass für sie die richtigen Partien immer zur genau richtigen Zeit kamen, ist das glaubwürdig. Das kann nur eine Sängerin von sich behaupten, die ihr Zentralrepertoire über Jahre singt und mit diesem regelmäßig an mehrere Theater zurückkehrt. Ohne die herzliche Wertschätzung des kenntnisreichen Publikums an ihren Stammhäusern wäre das nicht möglich. Diese so schwer zu haltende Stabilität schafft gute Energien für weniger gefragte und trotzdem begehrte Partien wie Strauss‘ „Daphne“. Die von Apollon in einen Lorbeerbaum verwandelte Nymphe war eine der von Camilla Nylund mit Vorliebe angesteuerten „Wahnsinnsarbeiten“ – wie auch die Titelpartie in Janáčeks „Jenůfa“ an der Lindenoper. Nur eine einzige Vorstellung durfte wegen Corona stattfinden, und trotzdem hatte sich die Anstrengung der Einstudierung in tschechischer Sprache für diese Traumpartie gelohnt.
Hat eine Stimme mit silberner Reinheit: Camilla Nylund
Im Lied wird Camilla Nylund neben in ihrem Fach unverzichtbaren Standard-Werken wie Wagners „Wesendonck-Liedern“ immer entdeckungsfreudiger. Die ihr besonders am Herz liegenden „Lieder von der Liebe, der Verzweiflung, der Illusion, der Untreue, dem Älterwerden und der Seligkeit!“ aus dem Great American Songbook mit dem ORF Radio-Symphonieorchester unter Marin Alsop wurden Ende 2021 in Schwarz-Weiß gefilmt. Inspiriert hatte sie André Heller, in dessen Inszenierung des „Rosenkavalier“ an der Lindenoper sie kurz vor der Pandemie die Marschallin nochmals neu gedacht hatte. Ob Schönberg, Strauss oder Wagner: Immer hört man bei ihr eine Stimme mit silberner Reinheit, Seelenadel und jener vokalen Gesundheit, welche für die gefahrlose Eroberung des hochdramatischen Wagner-Repertoires eine wesentliche Voraussetzung ist.