Carolin Widmann ist mehr als nur eine erfolgreiche Geigenvirtuosin – ganz wie ihr prominenter Bruder Jörg: Der sorgt neben seinen Auftritten als Klarinettist ebenso als Komponist für außergewöhnliche Konzerterfahrungen. Und auch bei seiner drei Jahre jüngeren Schwester geht die Verbundenheit mit der Musik weit über das eigene Instrument hinaus.
So übernahm die Geigerin 2012 die künstlerische Leitung der Sommerlichen Musiktage Hitzacker. Trotz eines vollen Konzertkalenders, trotz ihrer Professur an der Musikhochschule in Leipzig hatte sie sich für den Posten bei Deutschlands ältestem Kammermusik-Festival beworben, um noch mehr inhaltlich arbeiten zu können. Die Festival-Programme tragen seitdem ihre ganz starke Handschrift, thematische Schwerpunkte und Querbezüge zu anderen Künsten locken die Besucher in das kleine Örtchen an der Elbe.
Auch in Widmanns Geigenspiel kann man diese zweite Ebene, den geistigen Überbau durchaus wahrnehmen. Die Bezeichnung als „eine der charismatischsten Geigerinnen“, wie man sie häufig liest, ist bei ihr keine leere Worthülse, sondern hat mit der inhaltlichen Tiefe zu tun. Ihre letzte Schubert-Aufnahme beispielsweise, mit Alexander Lonquich am Klavier, rührte und berührte die Kritiker: „So klingt verletzliche, fragile, sich vor Beschädigung fürchtende Musik“, schrieb die „Zeit“.
Modernes Repertoire in guten Händen
Danach nahm sie Morton Feldman auf, Violin and Orchestra. Ein Wagnis, denn auf den ersten Blick wirkt das 50 Minuten lange Werk des amerikanischen Avantgarde-Komponisten nur wie eine ausgedehnte Abfolge einzelner Klangfragmente. Doch dann begibt man sich hinein, verfolgt die Tonfiguren und Effekte bis zum Schluss – weil Widmann und das hr-Sinfonieorchester unglaublich viel Spannung hineinbringen, einen Puls, der nicht aufhört, zu schlagen.
„Mir ist es wichtig, das Repertoire immer mehr zu erweitern, raus aus diesem Korsett, das man ,Neue Musik‘ nennt, oder eben ,Romantische Musik‘, ,Wiener Klassik‘. Ich möchte, dass jemand, der meine Platten hört, dazwischen einen größeren Zusammenhang sehen kann.“ Widmann ist bei ECM unter Vertrag, wahrscheinlich das am wenigsten angepasste Klassik-Label überhaupt. Wobei „unter Vertrag“ wohl der falsche Ausdruck ist, da Label-Chef und Produzent Manfred Eicher angeblich noch nie einen Vertrag unterschrieben hat, wie Widmann erzählt. Sie liebt die Zusammenarbeit mit Eicher, „er inspiriert mich, er ist genial, ein lebendiges Ohr, sein Instinkt ist fast schon unheimlich. Er lässt mich programmatisch machen, was ich will, er unterstützt mich dabei schon seit einigen Jahren und ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann.“
Tatsächlich kann man sich ein Stück wie das von Feldman bei einer anderen Plattenfirma kaum vorstellen. „Woanders würde mir wahrscheinlich mehr vorgeschrieben werden, was ich tun sollte, damit es eine bestimmte Wirkung erzielt. Wenn ich mich mit Manfred Eicher unterhalte, steht aber immer das Künstlerische im Vordergrund, nie das Geschäftliche. Er nimmt eine Heinz-Holliger-Produktion genauso ernst wie eine Keith-Jarrett-Platte, auch wenn sich davon nur wenige CDs verkaufen.“
Anpassung ist der gebürtigen Münchnerin fremd
Dieses autonome Verhalten ist in gewisser Weise auch für Widmann charakteristisch, die sich als Einzelgängerin sieht: „Ich habe oft das Gefühl, dass ich einen Weg gehe, der nicht dazugehört. Ich hatte einen völlig anderen Werdegang, wurde nicht mit 15 von einem großen Dirigenten entdeckt, der mich dann gefördert hat – ich bin über Umwege dorthin gekommen, wo ich jetzt bin. Ich glaube auch nicht, dass es viele Geiger gibt, die in einer Saison sowohl das Violinkonzert von Sibelius als auch das von Feldman spielen. Ich habe wenige Kollegen, mit denen ich mich darüber austauschen kann, weil es eben kaum jemand so macht“, sagt Widmann und fügt hinzu: „Geigespielen ist eben nicht gleich Geigespielen.“ Eigentlich ein lapidarer Spruch – doch wer ihre Interpretationen zu Gehör bekommt, dem scheint der Satz durchaus angebracht.