Franz Liszt galt als großer Erotiker, und doch war er ein tief religiöser Mensch. Seine Persönlichkeit schwankte dualistisch gleichsam zwischen Franz von Assisi und Mephisto, zwischen Weltflucht und Weltsucht, zwischen Askese und Ausschweifung. Beide Charakterseiten des Komponisten sind in seiner Musik wiederzuentdecken, mitunter kommen sich rauschhafte Entgrenzung und sittenstrenge Entsagung in seinen Werken sogar verblüffend nah. Schon in dieser Hinsicht scheint er seinem Schwiegersohn verwandt, Richard Wagner also, der in seinem Bühnenweihfestspiel Parsifal ja dezidiert Sinnenschwüle und religiöse Weihe zusammenklingen lässt.
Christoph Schoeners aparte wie gewagte Entscheidung, am Karfreitag dieses Jahres an St. Michaelis einmal nicht eine der bekannten Passionsmusiken aufzuführen, macht durchaus Sinn. Der Kirchenmusikdirektor wird also die Orchesterfassung des berühmten Karfreitagszaubers aus Parsifal mit dem Passionsteil des Oratoriums Christus von Franz Liszt konfrontieren. Damit erfüllt sich der Dirigent, Organist und Chorleiter einen langgehegten Wagner-Traum: „Ich bin ja als Kirchenmusiker naturgemäß kein Wagner-Experte, aber seine Musik hat mich schon immer gereizt: Sie hat eben etwas Mystisches.“
Das Liszt-Jahr 2011, in dem wir des 200. Geburtstages des Komponisten gedenken, war nun sein Ausgangspunkt, die Musik der beiden Romantiker zusammenzubringen. Faszinierend an Liszts religiösem Opus, das dieser während seines Romaufenthaltes in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts schuf, ist für Schoener die verblüffende Reduktion der Mittel, dieser „vergeistigte Stil“, so der Dirigent über den ungewohnten Purismus des Franz Liszt. Der im Wesentlichen homophone Satz, die chromatischen Modulationen und der schwebende Charakter des Klangs zeugen von Liszts Suche nach dem Glauben: In Rom erwarb er schließlich die niederen Weihen eines Abbé; seine insgeheime Hoffnung, dass seine Berufung in den Priesterstand ihm den Weg zum Musikdirektor des Vatikans ebnen könne, sollte sich indes nie erfüllen. Dennoch verdanken wir Liszts römischer „Bekehrung“ eine letzte Phase kompositorischer Höhenflüge, zu denen das Christus-Oratorium zumindest in den nun zu hörenden Passionsteilen zweifelsohne gehört. Unmittelbar berührend wirkt etwa der Satz Tristis est anima mea, in dem der Komponist den leidenden Christus selbst zu Wort kommen lässt. In diesen Kontext stellt Liszt auch seine Vertonung des Stabat mater, in dem er der Trauer der Gottesmutter Maria beredten Ausdruck verleiht.
Als feinsinnige Ergänzung zu Liszt und Wagner hat Schoener zudem die A-cappella-Motette Christus factus est von Anton Bruckner aufs Programm seines Karfreitagsprogramms gesetzt. Der Text bildet das Graduale für den Gründonnerstag und schildert die Erhöhung des gekreuzigten Gottessohnes. Mit Bruckners Chorsatz erklingt Musik jenes „Spielmannes Gottes“ und „Dombaumeisters der Musik“, der mit seiner Kunst zuallererst eines wollte: Gott dienen. Anders als die Erotiker Liszt und Wagner musste der fromme Österreicher mit der Askese nicht ringen, er lebte sie.