Ein bisschen hat er was von Franz Schubert, die dunklen Locken wirr um die Stirn, der sensible Blick, die runde Brille, die er früher trug: Christian Gerhaher, lyrischer Bassbariton aus dem bayerischen Straubing und selbsternannter „Autodidakt“, wenn es ums Singen geht. Ausgebildet wurde er schließlich zum Mediziner, der über Handgelenkspiegelungen promovierte. Beruf und Berufung aber wurde ihm die Musik, obwohl er behauptet, das theoretische Rüstzeug fehle ihm bis heute; er sei lediglich ein „Gast“ an der Münchner Musikhochschule und in Meisterkursen gewesen und habe ein Jahr am Würzburger Stadttheater gesungen. „Als Honorarprofessor an der Münchner Musikhochschule kann ich heute quasi mein eigenes Studium nachholen“, sagt er ohne einen Anflug von Koketterie.
Exzellenz – auch ohne Hochschulzeugnis
Vielleicht liegt’s am fehlenden akademischen Grad, dass er manchmal mit seiner Begabung hadert. Dabei ist nicht immer eine akademische Ausbildung der Garant für eine große Laufbahn. Bereits auf der Hochschule hatte es unakademisch geheißen: „Dir hab’n die Engel in den Hals gebiselt.“ Gerhaher, stets um ein intellektuelles Argument bemüht, hält das für „blühenden Unsinn“: „Man selbst ist verantwortlich für sein eigenes Timbre“, sagt er, „so wie man ab einem gewissen Alter auch für sein Aussehen verantwortlich ist.“ Frei nach Arthur Schopenhauer: „Die ersten 40 Lebensjahre eines Menschen schreiben den Text eines Gesichts, und die folgenden Jahre liefern dazu die Fußnoten.“ Da lacht Gerhaher endlich: „Ja! So ist es! Auch wenn man dafür zahlt und sich aus der Verantwortung stiehlt! Das Timbre kann man beeinflussen, etwa durch das Repertoire, das Alter, die Sprache, in der man denkt und in der man spricht, aber auch durch den klanglichen Willen.“ Den ließ er sich von Dietrich Fischer-Dieskau prägen, dessen sängerische Intelligenz, phänomenale Sprachgestaltung und Präzision er immer bewundert hat.
Den Tönen Gestalt geben – doch nicht um jeden Preis
In nimmer rastender Arbeit feilt Gerhaher auch heute noch am kleinsten noch so unscheinbaren Detail eines Liedes; er lädt jede Silbe mit Bedeutung auf, weiß Vokale und Konsonanten so zu färben, dass sie zu einer einzigartigen Wort-, Ton- und Sinnallianz verschmelzen – bis in das letzte Satzzeichen hinein. Wie ein Minnesänger trägt er Schmerz und Freude vor, mit edel durchscheinender, fast entrückt-androgyner Stimme, ob in seinem Lied-Kernrepertoire Schumann, Wolf, Schubert, Mahler oder in der Oper, die er langsam entdeckt, deren Repertoire für ihn als hoher, lyrischer Bariton aber auch begrenzt bleiben wird. Mag ihm der Stimmgourmet nicht verzeihen, dass er nicht über jenes große Espressivo verfügt, das in jedem Ton eine Träne mitklingen lässt. Eine „Über-Identifikation“ mit den Inhalten der Lieder ist ihm zuwider. „Distanzlosigkeit bei einem Interpreten ist schrecklich. Man kann nicht leugnen, dass Inhalte aus dem eigenen Leben in die Interpretation mit einfließen. Aber dies sollte mehr der Jugend vorbehalten bleiben.“ Gourmets hin oder her, immerhin mangelt es nicht an Auszeichnungen: zig-Mal Preis der deutschen Schallplattenkritik, Klassik-Echo und andere. Skeptisch bleibt er trotzdem. Das Musikgeschäft werde von Moden diktiert und „vielleicht passt mein unpathetisches Singen gerade gut ins Raster.“