Beethovens gern kolportiertes Bonmot, nach dem Johann Sebastian eigentlich nicht „Bach“, sondern „Meer“ hätte heißen sollen, bringt die allumfassende Wirkungsmacht des Thomaskantors treffend zum Ausdruck. Bachs Musik ist in ihrer Fugenstrenge ein strahlendes Abbild göttlicher Ordnung, in ihrer präludierenden Freiheit und harmonischen Kühnheit indes weist sie weit über ihre eigene Zeit hinaus. Um im Bild zu bleiben: Die munteren Motive dieser Musik sprudeln und fließen zwar wie ein klarer Gebirgsbach, strömen in ihrer geistigen Weite und klanglichen Mannigfaltigkeit aber hinaus in ein raumzeitlich unbegrenztes Meer. In solchen unendlichen Weiten trifft Bach dann auf Brahms, auf Liszt, auf Mahler.
Genau solche Begegnungen machen die Bach-Wochen an St. Michaelis auch in diesem Jahr wieder sinnlich nachvollziehbar – zum Beispiel mit Interpreten, die schon zur „dritten Generation der historischen Aufführungspraxis“ gehören, wie Christoph Schoener die Musiker des aus Köln stammenden Ensemble Neo Barock nennt. Sie werden am 4. November Bach-Bearbeitungen seiner Zeit und solche aus eigener Hand in der stimmungsvollen Michel-Krypta spielen. Im akustisch und atmosphärisch außergewöhnlichen Gewölbe von Hamburgs Wahrzeichen wird eine Woche später die Wahlhamburgerin Olena Kushpler von der Partita Nr. 2 in c-Moll von Bach ausgehend den Bogen zu – im umfassenden Sinne verstanden – geistlich durchtränkten Klavierwerken von Messiaen, Schubert, Debussy und Mompou spannen. Am 23. November wird die Mezzosopranistin Iris Vermillion die Bach-Wochen ebenda mit einer Reverenz an Gustav Mahler als Ausklang des Jubiläumsjahres zum 100. Todestag des einstigen Hamburger Kapellmeisters beenden.
Als programmatischer Kontrapunkt hierzu ist die Eröffnung der Konzertreihe ganz dem anderen Jubilar des Jahres 2011 gewidmet: Des Klaviervirtuosen und spätberufenen Abbés gedenkt Christoph Schoener sogar in einem zweitägigen „Fest für Liszt“. Der Coup des Kirchenmusikdirektors: Das Fest beginnt am 21. Oktober, dem Vorabend des Liszt-Geburtstages mit einem Wandelkonzert zwischen Kirche und Krypta, wo dann pünktlich um Mitternacht zum Umtrunk zu Ehren Liszts geladen wird. Zuvor ist der von Schoener hoch geschätzte, persönlich bescheidene Virtuose Wolf Harden mit Klaviermusik von Liszt zu erleben. Im Wechsel dazu spielt Schoener selbst Orgelwerke des Geburtstagskindes. Zum eigentlichen Wiegenfest treten neben dem Kirchenmusikdirektor dann der Pianist Matthias Kirschnereit und der Bariton Andreas Schmidt im Altarraumkonzert auf. Als klangmächtiges Pendant zum Liszt-Fest spielt Schoener am 16. November „das anspruchsvollste Bach-Programm, das es geben kann.“ Den dritten Teil der Clavierübung wird er dann als „Inszenierung mit allen Mitteln des Michels“, also verteilt auf die gesamte Orgelanlage des Gotteshauses einschließlich des Fernwerks und der kleinen Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel, interpretieren.
Neben der traditionellen Aufführung des Deutschen Requiems von Johannes Brahms am 19. November darf die von Schoener geleitete h-Moll-Messe am 29. Oktober als Herz der Bach-Wochen gelten. Mit historischen Instrumenten und einer Kammerchor-Besetzung von nur 48 Sängern möchte er „keine Kompromisse mehr eingehen“ und Bachs Intentionen so nahe wie möglich kommen.