Es ist kein Zufall, dass sich Görlitz in den Kulturgazetten einer hohen Aufmerksamkeit erfreut, besitzt die geteilte Stadt an der Neiße doch ein einmaliges Ensemble städtebaulicher Geschlossenheit. Nicht umsonst pilgern Filmleute, besonders gern aus Amerika, mit Vorliebe in die großzügigen Gründerzeitviertel, um dort historische Blockbuster zu drehen. Westdeutsche Rentner suchen sich am ostsächsischen Rand ihr Altersdomizil, das weltberühmte Jugendstilkaufhaus, seit Jahren dem Leerstand geweiht, wurde erst jüngst an einen Investor verkauft.
Ein Schmuckstück ganz anderer Art ist weitaus älter und steht am Demianiplatz: Seit 1851 wird hier im Mehrspartenbetrieb unter der Flagge des Schlesiers Gerhart Hauptmann Theater gemacht. Erst vor elf Jahren konnte der Zuschauerraum des Prachtbaus saniert werden, den die Görlitzer wegen seiner Innenausstattung als „Kleine Semperoper“ vergöttern. Offenbar haben die Kulturenthusiasten aber eine zu schwache Lobby – seit Jahren wird über Fusionen mit dem Sorbischen Volkstheater in Bautzen und der Dependance in Zittau gestritten, Eitelkeiten spielen eine Rolle, auch ein bisschen Provinzgeist. Die Mittel des sächsischen Kulturraumgesetzes, einmalig in der deutschen Kulturlandschaft, kann man nicht gerade als prosperierend bezeichnen, und die Kommune ist klamm – trotz oder gerade wegen ihres kulturellen Reichtums.
Überregionale Präsenz durch Uraufführungen
Dennoch versucht das Gerhart-Hauptmann-Theater seit Jahren mit Uraufführungen und politischen Projekten überregional zu strahlen. Intendant Klaus Arauner, auch als Regisseur mit viel Sendungsbewusstsein gesegnet, scheint um jeden Preis sein Theater in die Gazetten bringen zu wollen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Dabei wird sehr laut geklingelt: Moritz Eggert hob in Görlitz seine Oper Linkerhand aus der Taufe, Enjott Schneider seinen Bahnwärter Thiel. Ein eher müde insistierendes Spektakel blieb im Frühjahr Andreas Kerstings Oper Tod eines Bankers, Aufsatzthema: Finanzkrise. An künstlerischem Mut fehlt es Arauner nicht: Als einer der ersten Theatermacher lud er sich Hartz-IV-Empfänger von der Straße auf die Bühne, ließ sie Stücke schreiben, selbst aufführen und dann auch beklatschen. In Zusammenarbeit mit der Partnerstadt am anderen Neißeufer gibt es ein grenzüberschreitendes Theaterabonnement mit dem Theater Jelenia Gora, Übertitel laufen auf polnisch – man hat den Eindruck, es wird alles richtig gemacht, das Programm ist alles andere als provinziell, und doch wird immer wieder über die Grundlagen gestritten.
Nach dem Abgang des beliebten Generalmusikdirektors Eckehard Stier, der sich mithin endgültig ins neuseeländische Auckland verabschiedete, folgte der Italiener Andrea Sanguineti, dessen Einstand im September hoffnungsfroh stimmen musste. Seine Neue Lausitzer Philharmonie verfolgt eine kluge Dramaturgie, spielt, wie es häufig an kleineren Theatern üblich ist, mit viel Herzblut und Verantwortungsgefühl für das Nachziehen von jungem Publikum. Es fährt über Land und gibt dort in den kleinsten Hütten palastreife Konzerte; im Graben darf es sich nicht nur mit Musicals abrackern, sondern auch mit Neutönern oder – wie im nächsten April – Janáčeks Jenůfa beweisen. Auch das Ensemble auf der Bühne agiert mit bewundernswerter Hingabe. Wie sonst ließe sich auch der jahrelange Verzicht auf tarifvertragliche Leistungen erklären?
Bei 54.000 Einwohnern grenzt es schon an ein kleines Wunder, dass in Görlitz neben Schauspiel auch Konzerte, Ballett, Opern und Musicals gespielt werden. Wenn man sich auch im Wagnerjahr keinen echten Tannhäuser leisten kann, macht man eben Nestroys Parodie. Prokofjews Klassiker Romeo und Julia ist auch immer eine weite Reise wert, und nebenbei kann man sich ja immer noch der Fastkulturhauptstadt widmen.