„Die klügsten Studenten ernten die dicksten Kartoffeln“: So könnte, in Abwandlung eines alten Sprichworts, das Gründungsmotto des Dresdner Kammerchores lauten. Entstand das Ensemble doch im Staat der Arbeiter und Bauern als Nebenprodukt sozialistischer Landwirtschaft. „In der DDR mussten die Studenten mit anpacken – deshalb wurde ich 1985, gleich zu Beginn meines Studiums an der Dresdner Hochschule, mit Kommilitonen zur Apfel- und Kartoffelernte ins Elbsandsteingebirge beordert“, erinnert sich Dirigent Hans-Christoph Rademann. „Wir waren da alle in einer Jugendherberge untergebracht. Ich hatte einen Packen Noten mitgenommen, von Stücken wie den Deutschen Volksliedern von Brahms, und so verbrachten wir unsere Abende damit, gemeinsam zu singen.“ Aus dem Erntehelferensemble wurde nach der Rückkehr ein fester Chor mit wöchentlichen Proben.
Mit schlankem Klang an die Spitze der deutschen Chöre
Nach zwei Jahren erhöhte Rademann die Schlagzahl und ergänzte die Arbeit durch zusätzliche Termine mit den einzelnen Stimmgruppen, um seine Vorstellungen noch besser zu realisieren. „Zu den Worten, die ich am häufigsten in der Probe gebrauche, gehören Klarheit und Deutlichkeit. Ich möchte die Strukturen der Werke hörbar machen – seien es nun die sauberen Tonablösungen, die Sprache oder die dynamischen Verläufe.“
Schon früh formte der Erzgebirgler einen schlanken, feinkörnigen Klang. Die stimmliche Homogenität – die mit einer sehr angenehmen sozialen Nestwärme einhergeht – zeichnet den Dresdner Kammerchor bis heute ebenso aus wie die organische Textbehandlung. Und diese klar erkennbare Handschrift machte sich bezahlt: Das Ensemble ersang sich schon bald einen hervorragenden Ruf, der sich nach der Wende in der ganzen Republik verbreitete.
Ihre erste CD mit geistlicher Chormusik aus vier Jahrhunderten bescherte den Sachsen dann 1996 nicht nur ein begeistertes Echo, sondern auch überregionale Anerkennung. Und ihr kurz darauf veröffentlichtes Album mit dem Te Deum von Zelenka und einer Heinichen-Messe steht beispielhaft für das ganz eigene programmatische Profil des Kammerchores: „Wir wollten eine Marktlücke bedienen und haben deshalb das mitteldeutsche Repertoire besonders im Fokus“, sagt Rademann.
Mammutprojekt bis 2017: Erste Schütz-Gesamteinspielung
Dieser Barock-Schwerpunkt und die Stilsicherheit in der historischen Aufführungspraxis spiegeln sich in einer inzwischen umfangreichen Diskografie – etwa im Mammutprojekt der ersten, 22 CDs umfassenden Heinrich Schütz-Gesamteinspielung, die 2017 abgeschlossen sein soll.
Live war und ist der Dresdner Kammerchor jährlich in 30 Konzerten präsent, sowohl mit seinen eigenen Programmen, die ein breit gefächertes Repertoire abdecken, wie auch als begehrtes Gast-Ensemble – etwa beim Leipziger Gewandhausorchester. Kein Wunder – hat doch Hans-Christoph Rademann, unterstützt durch seine Assistenten Jörg Genslein und Olaf Katzer, im Laufe der Zeit das künstlerische Niveau des Ensembles kontinuierlich weiter entwickelt. „Durch meine Tätigkeit als Leiter von Rundfunkchören wie dem NDR Chor und dem RIAS Kammerchor habe ich viele Impulse bekommen“, erzählt der Dirigent. „Wenn man auch in großen Räumen bestehen will, braucht man mehr Volumen und Durchschlagskraft, daran haben wir viel gearbeitet. Aber letztendlich sind wir unserem schlanken Klang immer treu geblieben, auch wenn er ein bisschen kerniger geworden ist.“ Rademann hat seinen Kammerchor immer weiter professionalisiert und trotzdem die ansteckende Musizierfreude und den familiären Umgang der Anfangsjahre gewahrt. Seine Erntezeit ist auch nach drei Jahrzehnten noch lange nicht vorbei.