Ein liebenswürdiger alter Herr, kindlich lächelnd, mit zarter, schmächtiger Gestalt, schütterem weißen Haar, einer dezenten Brille. Wer Rudolf Serkin je auf die Bühne kommen sah, wird sich an den kathartischen Schock erinnern, den man spürte, wenn dieses hochkonzentrierte Energiebündel seine Hände in rasender und doch kontrollierter Attacke über die Tasten bewegte. Ein entfesseltes Spiel, ein Mensch, der sich mit prometheischem Feuer für die Musik aufopferte. So werden viele Glückliche, die ihn noch live erleben konnten, Rudolf Serkin in Erinnerung haben.
Er gilt als einer der letzten Klaviertitanen, man nennt ihn heute in einer Reihe mit Arthur Rubinstein, Claudio Arrau oder Vladimir Horowitz. Er hatte die Flamme schon von frühester Jugend in sich, und er verlor sie nie. Doch Rudolf Serkin war ein Künstler der Extreme; so sehr er sich entäußern konnte, so sehr beherrschte er das lyrisch-verinnerlichte Spiel.
Vom Wunderkind zum Klavierstar: Rudolf Serkin
Schon mit zwölf Jahren debütierte der als Wunderkind geltende Pianist mit Mendelssohns g-Moll-Klavierkonzert in Wien. Sein Vater war ein russischer Sänger, im böhmischen Eger kam Rudolf Serkin am 28. März 1903 zur Welt. Bei Richard Robert erhielt er ersten Unterricht, und mit fünfzehn war er bereits Kompositions-Schüler beim Erfinder der Zwölftonmusik, Arnold Schönberg. Dass Serkin in seinem Repertoire stets der Klassik und Romantik treu blieb, zeigt nur, dass er Gegensätze in sich vereinen konnte. Mit siebzehn lernte Serkin den damals 30-jährigen Geiger Adolf Busch kennen, mit dem er bis zu dessen Tod ein kongeniales Kammermusik-Duo bildete.
1933 emigrierte Rudolf Serkin, der jüdische Künstler, in die USA. Kurz zuvor hatten die Nationalsozialisten ein Konzert von Serkin in Düsseldorf gestört – in jener Stadt, in der er 1957 zum ersten Mal wieder in Deutschland spielte. Bis zu seinem Tod hat er weltweit viele unvergessliche Konzerte gegeben, etwa bei dem von ihm und Adolf Busch gegründeten Kammermusikfestival in Marlboro/Vermont oder beim Festival Pablo Casals in Südfrankreich. Glücklicherweise sind davon viele Mitschnitte erhalten. Rudolf Serkin war ein Künstler, der Virtuosität nie als Selbstzweck verstand, dem die schärfsten und herbsten Klangkonturen wichtiger waren als Eitelkeit, der die Musik von allem Spielwerk entkleidete und sie auf eine metaphysisch wahrhaftige Ebene hob.