Es war die Musik von Johann Sebastian Bach, die eine regelrechte Renaissance der Barockmusik ausgelöst hat. Vor allem Felix Mendelssohn hat sich der jahrzehntelang nicht mehr gespielten Musik des Thomaskantors angenommen und sie im 18. Jahrhundert zurück auf die Bühnen und ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gebracht. Es war ebenfalls die Musik von Bach, die in der noch ganz jungen Emmanuelle Haïm eine Liebe für die Barockmusik entfacht hat, die sich bis heute wie ein roter Faden durch ihr Leben und ihre Karriere zieht. „Meine Tante war Pianistin. Sie hat immer viel Bach gespielt und mir als Kind einfache Werke von ihm auf dem Klavier beigebracht“, erzählt die französische Cembalistin. Im Gedächtnis sind ihr auch die Besuche in der nahe gelegenen Kirche St-Séverin in Paris geblieben, bei denen sie Orgelgrößen wie Michel Chapuis oder Pierre Cochereau an den Tasten erlebt hat und die ihre Leidenschaft für Alte Musik gefestigt haben.
Die frühe Festlegung auf das Repertoire mag überraschen, wenn die Musikerin von ihrer Kindheit spricht und erzählt, dass Musik im Hause Haïm allgegenwärtig war: von Händel bis Glass, von französischer Orgelmusik bis zu ungarischen Volksliedern. „Als mein Vater gestorben ist, hat meine Mutter einen ungarischen Mediziner geheiratet, der eng in der damals sehr kleinen und sehr künstlerischen ungarischen Community in Paris verwurzelt war. Zu seinen Freunden zählten Schriftsteller, Poeten, Maler und Musiker wie Miklós Perényi. Ich hatte wirklich Glück, in diesem Umfeld aufwachsen zu dürfen.“
Emmanuelle Haïm: „Ich habe schlicht nicht darüber nachgedacht“
Und doch war es wieder einmal die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, die während ihres Klavier-, Orgel- und Cembalostudiums bei Koryphäen wie Kenneth Gilbert und Christophe Rousset immer im Vordergrund stand. „Damals haben Komponisten noch nicht alle Anweisungen in die Noten geschrieben, man braucht also ein anderes Level an Wissen, um die Musik zu spielen. Auch historische und harmonische Kenntnisse sowie Kontrapunktlehre sind sehr wichtig für dieses Repertoire. Das hat mich begeistert und in mir den Wunsch geweckt, mich weiter in die Arbeit zu vertiefen“, erklärt Haïm. Nach ihrem Studium wird sie daher Continuo-Spielerin und musikalische Assistentin in William Christies Ensemble Les Arts Florissants, das sich der Barockmusik in historischer Aufführungspraxis verschrieben hat. „Christie hat viel Neues im Repertoire entdeckt, das man damals einfach noch nicht kannte. Er war musikalisch sehr abenteuerlich und mutig und hatte die Kapazität, aus allem etwas Lebendiges zu machen.“
Im Ensemble kann die Cembalistin nicht nur ihre Leidenschaft zum barocken Repertoire ausleben, sondern sich nach und nach auch einen lang gehegten Kindheitstraum erfüllen: Immer häufiger tritt sie neben ihrer Arbeit als Cembalistin auch als Dirigentin auf. Schließlich wird sie dank einer Empfehlung Christies Assistentin von Simon Rattle, den sie bereits 1999 bei der Produktion von „Les Boréades“ bei den Salzburger Festspielen kennengelernt hatte. „Simon Rattle ist für mich jemand, der Menschen zusammenbringen und das Beste aus jedem herausholen kann. Selbst wenn er dirigiert, gibt er jedem die Freiheit, er selbst zu sein. Sein Blick auf die Musik ist immer persönlich, originell und sehr überzeugend“, schwärmt die Musikerin. Der Schritt ans Pult ist für viele Frauen in der Musik immer noch nicht selbstverständlich und dadurch ein unausweichliches Thema in jedem Interview, das Emmanuelle Haïm führt. Heute ist sie sich ihrer Rolle als Vorbild für viele junge Frauen bewusst. Früher sei das anders gewesen. „Damals habe ich mich weder in der Rolle einer Frau noch eines Mannes gesehen, sondern bin einfach meinen Weg gegangen. Deswegen hat es mich zu Beginn immer überrascht, darauf angesprochen zu werden – ich habe schlicht nicht darüber nachgedacht. Heute tue ich das aber und sehe die Hürden und Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.“
Unterstützung von Familie und Nachbarn
Die Arbeit mit Simon Rattle hat Emmanuelle Haïm schließlich den Weg geebnet, ihr eigenes Ensemble für Alte Musik zu gründen, das 2020 bereits sein 20-jähriges Jubiläum feierte. Schon im zweiten Jahr nach der Gründung ist Le Concert d’Astrée zu Gast im Lincoln Center in New York, im Concertgebouw in Amsterdam, in der Berliner Philharmonie und nimmt erste Projekte auf CD auf. Heute erinnert sich die Dirigentin mit einem Schmunzeln an die Zeit zurück. „Wir hatten damals den Enthusiasmus und den Mut der Jugend. Finanziell war es hart, unsere Buchhalterin hat zwei Jahre gebraucht, um alles in Ordnung zu bringen und im administrativen Bereich haben uns meine Familie und meine schwangere Nachbarin geholfen. Das war verrückt, aber auch sehr schön!“
Bis heute hat das Ensemble zahlreiche Werke der französischen Barockmusik aufgeführt und eingespielt, aber auch Monteverdi, Händel und natürlich Bach stehen immer wieder auf dem Programm. Von Startschwierigkeiten ist schon lange nicht mehr die Rede, stattdessen zählen Emmanuelle Haïm und Le Concert d’Astrée zu einer festen Größe im Bereich der Alten Musik. Das hat sich auch bei der großen Feier zum 20. Jubiläum gezeigt, bei der so viele Freunde des Ensembles zugesagt haben, dass aus einem gleich zwei Konzerte wurden, um jedem Musiker eine Plattform bieten zu können. Das ist ohne Zweifel der Leidenschaft, dem Mut und der Beharrlichkeit zu verdanken, die Emmanuelle Haïm schon seit ihrer Kindheit an den Tag legt.