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Porträt Gerd Albrecht

Der Überzeugungswohltäter

Gerd Albrecht entdeckt und erklärt seit langem unbekannte Musik. Derzeit gemeinsam mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

vonVolker Tarnow,

Fragt man Gerd Albrecht, woher diese phänomenale Entdeckerlust kommt, so antwortet der in Berlin aufgewachsene, mittlerweile 75jährige Dirigent: „Das muss irgendwie genetisch sein.“

Es begann während seines Studiums, als der junge Chorleiter auf Grauns Der Tod Jesu stieß, ein Werk, das einst so oft gespielt wurde wie heutzutage die Matthäus-Passion. „Ich will herausfinden, warum Dinge, die derart groß waren und allseits bewundert, später vollständig vergessen werden konnten.“

Wie kein zweiter hat er auf Orchestervorstände und Intendanten eingeredet, auf die Leithirsche in Rundfunk- und Fernsehanstalten und Verlagen, dem Unbekannten das Ohr zu öffnen. Und möglichst das Portemonnaie. Albrecht wirkt zwar wie ein hanseatischer Gentleman, aber unter dem Frack steckt ein Abenteurer und Querkopf – ein Überzeugungswohltäter, der freilich phänomenale Erfolge vorweisen kann. Ständig nimmt er neue Fährten auf, folgt überwachsenen oder auch taufrischen Spuren und hinterlässt seinerseits im Repertoire tiefe Eindrücke.

Albrecht predigte jahrelang, Janáček sei genauso bedeutend wie Alban Berg, aber man lachte darüber, hielt es für eine Provokation. Heute lacht keiner mehr. Ohne Albrecht hätte es weder eine Schreker- noch eine Zemlinsky-Renaissance gegeben, wären die Orchesterwerke des in Auschwitz ermordeten Viktor Ullmann und Erwin Schulhoffs frühe Vokalsinfonien nie gespielt, viele großartige Dvořák -Opern nie auf Tonträger gepresst worden. Albrecht wies mit der Einspielung der dritten Sinfonie nachdrücklich auf Louis Spohr hin, und er war es auch, der die Berliner Philharmoniker veranlasste, wenigstens einmal das schwedische Schwergewicht Allan Pettersson ins Programm zu hieven.

Kaum aufzuzählen die Revivals und Premieren, für die Gerd Albrecht auf seinen Chefposten in Lübeck, Kassel, Berlin, Zürich, Hamburg, Prag, Kopenhagen und Tokio verantwortlich zeichnete. Wobei Zeitgenössisches und Klassisches für ihn seit eh und je zusammen gehören. „Jeder reproduzierende Musiker hat die Pflicht“, sagt er, „sich der Musik seiner Zeit zu stellen, sie zur Diskus¬sion zu stellen. Wer diese Verpflichtung nicht spürt, sollte sich nicht Künstler nennen!“ Neben der Musikvermittlung für Kinder, die er mit seiner Stiftung „Klingendes Museum“ fördert, liegt ihm besonders die Gegenwartsmusik am Herzen. „Solche Vermittlung wird notwendig, wenn man merkt, dass das Publikum an eine Grenze stößt und abschaltet – was bei zeitgenössischer Musik oft der Fall ist. Dann muss man sich etwas einfallen lassen, um diese Grenze zu überspringen.“

Und so agiert Albrecht, dem Beispiel Leonard Bernsteins folgend, unermüdlich als pädagogischer Springinsfeld. Derzeit lässt er ein klassisches Format an klassischer Stelle wieder auferstehen: das Gesprächskonzert im Großen Sendesaal Masurenallee. Das hat für Albrecht auch den Vorteil, dass er von seiner nahe gelegenen Wohnung zu Fuß gehen kann. Die auf drei Jahre projektierte Reihe „Ganz neu – ganz nah“ begann im Januar mit Jörg Widmann und wird im Mai mit der in Berlin lebenden Koreanerin Unsuk Chin fortgesetzt. Nächste Saison folgen Brett Dean und Christian Jost.

Wirkt zeitgenössische Musik auch auf die Gegenwart zurück? Da ist sich der Dirigent nicht so sicher. Wir staunen: keine humanistische Utopie, keine kollektive Katharsis, nix? Albrecht lächelt salomonisch. „Fragen Sie mich in fünfzig Jahren noch mal, vielleicht kann ich dann eine Antwort geben.“

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