Bevor Andris Nelsons im Februar 2018 sein Amt als Gewandhauskapellmeister an- und damit in die Nachfolge von Felix Mendelssohn, Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler eintrat, wurde sein Konterfei auf die Glasfassade des prächtigen und einzigen Konzerthaus-Baus der DDR-Zeit projiziert. Mit offenen Armen, glücksseligem Blick und erhobenem Taktstock lud er das musikbeflissene Leipziger Publikum zu einer neuen Ära mit dem weltberühmten Orchester ein, und die dankten es ihm mit weiterhin ausverkauften Sälen.
Schon vor seinem Amtsantritt war der noch zu Sowjetzeiten in Lettland geborene Trompeter mehrfach am Augustusplatz zu Gast gewesen, einst Europas bedeutendstem Musikzentrum neben Wien. Schon früh fiel ihm auf, was dereinst auch seinen Vorgänger Riccardo Chailly begeistert hatte: die „gemeinsame Verehrung für die Tradition, die ich ja fortschreiben will“. Launig beschrieb er einen Apothekenbesuch in Leipzig, bei dem er schon darauf angesprochen werde, dass er ja heute ein Konzert mit Mendelssohn habe und dass man sich dort sehen werde. „Das Orchester gehört zur Seele der Stadt und trägt zu ihrer Lebensqualität bei, jeder ist stolz darauf. Es zu leiten heißt ja nicht nur zu probieren und zu konzertieren, sondern wir sind Botschafter und haben die Aufgabe, neues Publikum mit klassischer Musik zu inspirieren.“
Emotionaler Erwecker: Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons
Andris Nelsons gehört dabei zu jener aufstrebenden Generation immer noch junger Dirigenten, die weniger Diktatoren als vielmehr eine Art emotionale Erwecker sind. Sieht man Nelsons dirigieren, fühlt man sich eher an einen Fußballtrainer als an einen gestrengen Lateinlehrer erinnert. Mit großem Talent brachte es Nelsons innerhalb kürzester Zeit zu erstklassigen Posten und wurde 2016 als heißer Anwärter für den Chefposten bei den Berliner Philharmonikern gehandelt. Obwohl sich der sensible Musiker im gleichen Jahr kurzzeitig von Christian Thielemann aus Bayreuth vertrieben fühlte, wo er bereits 2010 debütiert hatte, wird er schon 2020 für eine Neuinszenierung des „Rings“ erneut auf dem Grünen Hügel erwartet.
Die übliche Ochsentour durch die Provinz gestaltete sich für den Rigaer Sohn einer Musikerfamilie durchaus kurz: Vom Orchestermusiker in seiner Heimatstadt wurde er schon mit 24 zum Chefdirigenten berufen, ging danach zur Nordwestdeutschen Philharmonie Herford und kurz darauf nach Birmingham. Stets waren seine Aufstiege als kometenhaft gefeiert worden, zumal Nelsons parallel nebenbei wichtige Debüts in Wien, Berlin, New York, Covent Garden und in Amsterdam gab. 2014, da war er gerade 36, folgte die erste wichtige Chefpostenstelle in Boston, die Nelsons auch mit dem Amtsantritt in Leipzig behielt und beide Orchester zu einer Partnerschaft bewegte, die in Leipzig Weeks und Boston-Wochen den Austausch von Gastspielen, Kammermusikern und Kompositionsaufträgen hervorbrachte.
Die Musik aus ihrem Zusammenhang ergründen
Dabei liegt Nelsons sowohl von Musikern als auch von Presse und Publikum beglaubigte Qualität vor allem in seiner Unverdorbenheit: Seine Interpretationen wirken echt empfunden, seine wissenschaftlichen Kenntnisse drumherum lassen staunen, das Interesse für die Authentizität seiner Musik ist für den noch immer jungenhaft wirkenden Dirigenten, der seinen Berufswunsch schon mit fünf Jahren erkor, unverkennbar. Seine Dirigate werden leicht zu Ereignissen, weil er die Musik aus ihren Zusammenhängen heraus versteht: „Eine Sache ist gute Vorbereitung, eine andere der Einfluss, den die Natur oder der Ort auf die Musik haben.“ Bei all dem mag man es kaum glauben: Andris Nelsons feiert heute erst seinen 40. Geburtstag.
Sehen Sie hier das Video zum Dienstantritt Andris Nelsons‘ als Gewandhauskapellmeister: