Künstler wie er sind Forscher auf der Suche nach Vollkommenheit: Beseelt von einer Sehnsucht nach immer mehr Tiefe des Ausdrucks und absoluter Erkenntnis der ach so verschiedenen Komponisten. Dazu strebend bemüht, die technische Beherrschung ihres Instruments auf die Spitze des Machbaren zu treiben. Nicht etwa, um den Steinway hernach für den virtuosen Selbstzweck bloß brillanten musikalischen Schauspiels zu missbrauchen, sondern vielmehr, um die eigene Fingerfertigkeit in den Dienst am Werk zu stellen, das sie uns schließlich ganz persönlich verlebendigen möchten. Solch unerbittliches Forschen, dem sich ein Grigory Sokolov verschreibt, kann in Wahnsinn oder Weltflucht enden. Oder es vergräbt sich im einsamen Tüfteln am Detail: Dann wird die Musik verkünstelt und droht sich in ihre Einzelteile aufzulösen.
Mit Leichtigkeit und Aufrichtigkeit zur annähernden Perfektion
Von solchen Gefahren indes ist bei Grigory Sokolov so gar nichts zu spüren. Der 1950 geborene St. Petersburger, der von seiner stetig wachsenden Fangemeinde und immer mehr Rezensenten längst als größter Meister des Klavierspiels unserer Tage verehrt wird, hat eine Souveränität erreicht, durch die er zwischen den Noten immer wieder ein weises Lächeln hindurchblitzen lässt. So als wolle er sagen: Ja, Vollkommenheit ist zwar gar nicht zu erreichen, aber nahe kommen kann man ihr durch Leichtigkeit und Aufrichtigkeit.
Seinem unangefochtenen Platz an der Spitze der Pianisten hat er es zu verdanken, dass er seine Programme nicht wie seine Kollegen Jahre im voraus festlegen muss. Ist Herr Sokolov gebucht, lassen sich Veranstalter landauf, landab darauf ein, dass der Maestro erst kurzfristig bekannt gibt, was er zu spielen gedenkt – eine Freiheit, die sich sonst kaum einer erlauben kann.
Frei von jeder Eitelkeit: Neue Programme statt neuer Porträt-Fotos
Eitelkeit oder gar Arroganz? Eigenschaften, die einem Grigory Sokolov fern liegen. Er bringt eben gerne die Werke mit, zu denen er sich zu diesem Zeitpunkt berufen fühlt. Überhaupt gibt es kaum einen uneitleren Künstler als ihn. Über Jahre zieren immer wieder die gleichen Fotos die Ankündigungen seiner Konzerte. Da grenzt es an ein kleines Wunder, einmal neues Bildmaterial des Pianisten zu erhalten. Er hat es eben nicht nötig, sich von Marketing-Profis in Szene setzen zu lassen.
Haben viele große Pianisten sich ein eingeschränktes Stammrepertoire als eigene Marke zugelegt, überrascht Sokolov mit seiner Stilgenauigkeit in nahezu allen Epochen. Für sein Recital in der Philharmonie konfrontiert Sokolov nun Bach mit Beethoven und Schubert.
Dabei dürfte einmal mehr die Meisterschaft des Russen erfahrbar werden, mannigfaltige musikalische Charaktere wirklich zu lebenden Gestalten werden zu lassen. Ist sein Zugriff auf Bach deshalb romantisch? Mit allerhand klanglicher Kulinarik stattet er die einst für Cembalo ersonnene Barockmusik aus, versucht also erst gar nicht, die Trockenheit des Ursprungsinstruments auf dem modernen Flügel wiederherzustellen. Sokolov zelebriert Bach gern mit einer geradezu orchestralen Üppigkeit. Sehr wohl meißelt er die polyphone Linienführung klar heraus, animiert die Einzelstimmen gleichwohl mit viel Schalk in den Fingern und maximaler dynamischer wie farblicher Flexibilität. Und könnten Schuberts doppelgesichtige Stimmungsumschwünge in besseren Händen sein, als in jenen Sokolovs, dieses risikofreudigen Grenzgängers, dieses Forschers nach Vollkommenheit?