Es gibt viele gute Laienchöre in Berlin – und es gibt die Sing-Akademie zu Berlin. Die ist in mehrerer Hinsicht etwas Besonderes. Sie ist der älteste gemischte Chor der Welt, 1791 von Carl Friedrich Christian Fasch, dem Hofcembalisten Friedrichs des Großen, gegründet und ab 1800 viele Jahre geleitet vom Goethe-Freund und Mendelssohn-Lehrer Carl Friedrich Zelter. In ihrem Haus, dem ersten Konzertsaal Berlins, erklangen erstmals nach Bachs Tod dessen Matthäus- und Johannespassion, die h-Moll-Messe und das Weihnachtsoratorium. Und noch zu Zeiten des Kalten Krieges, da die Sing-Akademie in West-Berlin ansässig war (und in Ost-Berlin eine neue „Berliner Singakademie“ gegründet wurde, die bis heute am Konzerthaus sehr aktiv ist), schrieb sie Musikgeschichte, etwa mit der deutschen Erstaufführung von Monteverdis Marienvesper.
Es ist aber vor allem das inhaltliche Konzept, das die Sing-Akademie von anderen Chören abhebt. Dass es sie in der heutigen Form überhaupt gibt, ist das Verdienst zweier relativ junger Leute: Kai-Uwe Jirka und Christian Filips. Vor fünf Jahren, als nach dem Tod des langjährigen Leiters Hans Hilsdorf und turbulenten Interimsjahren die Subventionen weg und alle Aktivitäten eingestellt waren, entwickelten Jirka, Professor für Chorleitung an der UdK, und Filips, freier Dramaturg und Lyriker, ein Konzept, dass sich an der Grundidee der Sing-Akademie zu Zeiten Faschs und Zelters orientiert.
„Wenn die Sing-Akademie einen Sinn haben sollte, musste sie etwas anderes bieten als die anderen Laienchöre,“ sagt Filips. „Was ist das Faszinierende an der Sing-Akademie um 1800? Dass eine Stadt zu singen beginnt! Dass plötzlich stände- und konfessionsübergreifend Kirchenmusik gesungen wird ohne liturgischen Kontext, von Männern und Frauen!“ „Man kam zusammen, um Bach-Motetten zu studieren, ohne sie je aufführen zu wollen,“ ergänzt Jirka. „Nicht das Singen stand im Mittelpunkt, sondern das Bildungserlebnis, die gesellschaftliche Teilhabe auch für jüdische Damen und französische Exilanten, die sich zuvor nur in ihren eigenen Kreisen bewegt hatten. Daneben trafen sich Dichter, Komponisten und Sänger zur Liedertafel, es gab einen Austausch zwischen den Künsten.“
Fasziniert von diesem Programm entwickelten beide ein Konzept, das vielschichtig, offen und doch in sich schlüssig ist. Dass sich der Verein, der rein privat finanziert wird, neben dem Künstlerischen Leiter einen Dramaturgen leistet, zeigt, wie wichtig man die Programmgestaltung nimmt. Dabei bewegt man sich in drei Bereichen: im 18. Jahrhundert, wo das 2001 aus Kiew zurückgekehrte Archiv noch viele Werke vor allem von Telemann und C. P. E. Bach bereithält, die der Wiederaufführung harren. Im 19. Jahrhundert, wo dem Chor zuletzt mit Adolf Bernhard Marx‘ Oratorium Mose eine erstaunliche Wiederentdeckung gelang. Und in der zeitgenössischen Musik – hier vergibt die Sing-Akademie immer wieder Kompositionsaufträge. Orchesterpartner sind je nach Repertoire die Lautten Compagney, die Symphonische Compagney und die Kammersymphonie Berlin.
Der „Hauptchor“ zählt inzwischen 80 Köpfe und führt jährlich drei Oratorien auf. Daneben gibt es den Kammerchor, der die Besten des Hauptchors vereint und der im April zum Beispiel bei den Fasch-Tagen in Zerbst gastiert, und einen festen Mädchenchor.
Einzigartig aber sind die offenen Formate, Mischformen zwischen Proben und Aufführungen. Unter dem Titel „Oratorio“ werden Werke studiert, die alle Sänger mal gesungen haben sollten, zuletzt Liszts Christus. „Familiär“ ist ein Singnachmittag für die ganze Familie. Und bei „Ripieno“ sichten Musikwissenschaftler, Musiker der Lautten Compagney und Sänger an einem Workshop-Tag Werke aus dem Archiv, moderiert vor Publikum. Zur „Liedertafel“ schließlich kommen regelmäßig Sänger, Komponisten und Dichter zusammen.
Ebenso einzigartig ist die Verzahnung mit der UdK. Deren Kirchenmusikstudenten dürfen beim Oratorio-Singen den großen Chor dirigieren und sogar Konzertteile als Prüfungskonzerte ableisten – was bei den Chorsängern wegen der erhöhten Spannung sehr beliebt ist.
Das Konzept von Kai-Uwe Jirka und Christian Filips scheint aufzugehen, in die Sing-Akademie zu Berlin ist frisches Leben zurückgekehrt. „Es ist einfach schön,“ sagt Jirka, „dass diese altehrwürdige Einrichtung die Berliner Bürger wieder zum Singen bringt!“