Sir Neville Marriner schwärmt. Soweit man so eine romantische Vokabel für einen waschechten Engländer überhaupt verwenden darf. Denn natürlich übt sich der 87jährige Maestro in Understatement, als er zum Gespräch an einen Ort bittet, der Musikgeschichte geschrieben hat. Die Rede ist von seinem wunderbar plüschigen Wohnzimmer in Londons feinem Kensington, wo er sich in den 50er Jahren zunächst nur zum Spaß mit Musikerfreunden traf, um einfach mal eine andere Art des orchestralen Miteinanders zu erproben: gleichberechtigt demokratisch und im munteren Austausch miteinander näherten sich Marriner und seine Mitstreiter ohne dirigentische Autorität einem seinerzeit kaum erschlossenen Feld des Repertoires aus Barock und Frühklassik. Eher unabsichtlich wurde so die Academy of St. Martin in the Fields geboren, heute eines der weltweit besten Kammerorchester.
Jetzt tritt der immer noch tatendurstige, enorm aktive Dirigent mit einem jungen Orchester auf, zu dessen Gründungsvätern er, neben dem Künstlerischen Direktor, dem Polen Pawel Kotla, zählt: Das I, CULTURE Orchestra, mit dem er am 2. November in der Berliner Philharmonie Tschaikowskys „Vierte“ und das Violinkonzert Nr. 1 von Karol Szymanowski aufführt und somit eine klangvolle russisch-polnische Verständigung erprobt, es folgt der Idee des West-Eastern Divan Orchestra, in dem Daniel Barenboim NachwuchsmusikerInnen aus Israel, Palästina und anderen arabischen Ländern zusammenführt. Anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft Polens, während der Deutschlands Nachbarland sich ausdrücklich nicht auf seine administrative Rolle beschränken will, entwickelte das Adam Mickiewicz Institut aus Warschau ein umfangreiches internationales Kulturprogramm. Dessen Herzstück und Flaggschiff der Initiative bildet das junge Orchester, das aus 104 Musikerinnen und Musikern zwischen 18 und 30 Jahren besteht, die aus Polen und seinen Nachbarländern Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan stammen.
Neville Marriner erzählt, dass er durchaus erschüttert ist über die ökonomischen Unterschiede und die zum Teil extreme Armut der jungen Künstler. Beglückend findet er indes, wie selbstverständlich und harmonisch der Austausch über musikalische Fragen funktioniert. Unter den Musikern werde eigentlich gar nicht über Politik gesprochen. Wobei gerade diese Tatsache ja implizit eine sehr politische Botschaft in sich birgt. Denn offensichtlich haben die jungen Leute die Vorurteile und Probleme, die ihre Länder offiziell bis heute trennen, längst hinter sich gelassen. Das macht Hoffnung, zum Beispiel, wenn Künstler der beiden verfeindeten ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan an Nachbarpulten gemeinsam Musik machen. Die hier verwirklichte Vision, über Sprachgrenzen und tiefe politische Gräben hinweg gemeinsam ein künstlerisches Ziel zu verwirklichen, hat also Vorbildcharakter für ein Europa, das – hier sogar jenseits der Grenzen der Europäischen Union bis in den Kaukasus hinein – in all seiner Vielfalt eben auch Einheit demonstrieren und gemeinsame Wurzeln entdecken will.
In seinen Proben mit dem I, CULTURE Orchestra hat Sir Neville Marriner neben der professionellen Qualität des Nachwuchses eine enorme positive Energie, Frische, Vitalität und Begeisterungsfähigkeit erlebt. Und seine jungen Kollegen bringen dem alten Herrn, der einst selbst als Geiger seine Karriere begann, ihrerseits eine große Verehrung entgegen. Als Ehrendirigent des I, CULTURE Orchestra begeht Marriner mit der in die wichtigsten Konzertsäle Europas führenden Tournee der osteuropäischen Musiker nun sogar das Jubiläum seiner über 70 Jahren währenden künstlerischen Aktivität, in der ihn seine Neugierde nie verlassen hat.