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Porträt Jan Lisiecki

„Talent allein reicht nicht“

Vier Klassen übersprungen, ein gefragter Pianist, ein Sprach- und Mathematik-Talent – doch vom Wunderkind-Gerede will Jan Lisiecki nichts hören

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Vorsicht! Ihr Computer ist gefährdet! Kaum ruft man im Internet jene Webseite auf, die den ersten TV-Auftritt des damals kaum vierzehnjährigen Pianisten Jan Lisiecki dokumentiert, da poppen mindestens drei Warnmeldungen mit der Drohung auf, der PC werde demnächst „crashen“. Lisiecki kann sich ein Lachen nicht verkneifen, als er die Geschichte hört: „Ich habe nicht damit gerechnet, dass auch Hacker sich für Pianisten interessieren! Hoffentlich hat Ihr Computer mich überlebt …“ Und fügt dann fast entschuldigend hinzu: „Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich viele meiner Auftritte auf YouTube gestellt, weil ich wollte, dass mich die Menschen, die mich engagieren, auch irgendwo hören können.“ Und so finden sich denn heute auf der Google-Suche nach seinem Namen bereits rund 130 000 Einträge – weit mehr als bei vielen seiner Kollegen, die schon wesentlich länger im Klassikgeschäft sind.

Allerjüngster Künstler der Deutschen Grammophon

Warum seine Tastenlaufbahn nicht nur im Netz, sondern auch auf der Bühne so rasant anlief und derzeit förmlich explodiert? Der Pianist kann sich den Schnelldurchlauf von Calgary zur Carnegie auch nicht erklären: Mit fünf kam er an das Konservatorium seiner kanadischen Heimatstadt, mit neun folgte der erste öffentliche Auftritt mit Orchester. Als 15-Jähriger trat er bereits auf den großen Bühnen in New York, Tokio, Seoul, München und Paris auf, spielte sogar vor Königin Elisabeth II. und 100 000 Menschen auf dem Parliament Hill in Ottawa. 2012 schloss der Sohn polnischer Eltern einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon ab – als jüngster Künstler in der Geschichte des Labels! – und der berühmte Geiger und Dirigent Pinchas Zukerman schwärmte von einem „Musiker, wie es ihn nur zwei Mal in hundert Jahren gibt“. Und da nichts erfolgreicher ist als Erfolg, bekam Lisiecki 2013 als bester Nachwuchskünstler den renommierten Grammophone Award, den „Oscar“ der Musik. „An mir lag es jedenfalls nicht, dass ich so schnell gewachsen bin“, witzelt der junge blonde Schlacks.

Überhaupt ist es ihm meist eher unangenehm, dieses ganze „Wunderkind“-Gerede. Ja, es sei wahr, dass er vier Klassen übersprungen und mit 16 seine Abschlussprüfung an der Western Canada High School in Calgary gemacht habe und auch, dass er mehrere Sprachen spreche. Doch sei dies so ungewöhnlich angesichts der Herkunft seiner Eltern? Bliebe immerhin noch seine Leidenschaft für die Mathematik und seine Begabung fürs Komponieren – „na ja, ich habe zwar die Kadenz für den ersten Satz des C-Dur-Klavierkonzerts von Mozart geschrieben, aber mehr auch nicht“, winkt der Unicef-Botschafter ab. „Und mit der Mathematik ist es wie mit der Musik: Wenn man nicht dranbleibt, dann verliert man seine Fähigkeiten – und im Moment habe ich mich ja für die Musik entschieden.“

Harte Arbeit und lebenslanges Lernen

Und überhaupt: Zu viel Lob behindere nur die eigene Entwicklung, setze die Erwartungen unnötig hoch und bagatellisiere den Alltag eines Musikers. „Ich mag den Begriff „Wunderkind“ nicht, denn dieser unterstellt, dass einem alles ganz leicht fällt“, wehrt sich Lisiecki. „Doch so ist es einfach nicht: Ich arbeite hart und muss es auch, denn Talent allein reicht nicht aus.“ Und auch keine fabelhafte Technik. Ohnehin werde technisch-manuelle Perfektion heute überbewertet, kritisiert der Virtuose – Interpretation aber sei doch etwas ganz anderes: „Die Schönheit von Musik ist, dass sie immer Raum gibt für neue Deutungen – und damit für ein lebenslanges Lernen.“

Was zweifellos auch für seine eigene Laufbahn gilt. Und so muss denn das eigentliche Wunder auch bei ihm erst noch geschehen: die Weiterentwicklung zum erwachsenen und dauerhaft ernst zu nehmenden Künstler.

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