Er agiert geräuschlos, fast unbemerkt. Jeder Schritt will wohlüberlegt sein, fern von äußerlicher Irritation, allzu offensichtlichen und lautstarken Hinweisen, die seine Spurensuche beeinträchtigen könnten. Er ist ein Detektiv, der – wenn er nach komplexem Puzzlespiel endlich die Lösung gefunden hat – Sensationen zutage fördert. Sein Name: Doyle. Nicht der namensverwandte Sir Arthur, der die Figur des Sherlock Holmes schuf. Nein, Justin Doyle, der große Unbekannte. Einen eigenen Wikipedia-Eintrag sucht man vergebens. Bis 2016, sagt Doyle selbst, habe er noch nicht einmal eigene Pressefotos gehabt. Das war ein Jahr, bevor er die Nachfolge von Hans-Christoph Rademann (nach der Interimsphase von Conductor in Residence Rinaldo Alessandrini) als Chefdirigent des RIAS Kammerchors Berlin antrat.
Justin Doyle: Abtauchen, in warme, „luxuriöse“ Tiefen
Seine Spurensuche führt ihn oft zu zeitgenössischen Komponisten, von denen noch niemand gehört hat, jedenfalls „nicht auf dem europäischen Festland“. Mit typischem britischem Understatement ergänzte er seinerzeit diese Feststellung in einem Interview: „… von mir hat man ja auch noch nicht gehört.“ Nun, das ändert sich vielleicht gerade. Nicht ganz plötzlich und mit Donnerschlag, das würde Justin Doyle nicht entsprechen. Eher subtil, mit permanenter Justierung seines Chors, den man eigentlich nicht besser machen könne, wie er sagt. Denn der RIAS Kammerchor könne alles: die Alte Musik, die zeitgenössische Musik „und alles dazwischen“. Beim Jubiläumskonzert zum 70-jährigen Bestehen des Chors im Oktober vergangenen Jahres konnte sich der in Lancaster geborene Dirigent über die Uraufführung der Auftragskomposition „World Without End / Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ von Roderick Williams freuen.
Doyle liebt Uraufführungen wie diese Chorkantate, die im Gedenken an das Ende des Ersten Weltkrieges entstand. Man müsse die jungen Komponistinnen und Komponisten unterstützen, das sei eine wichtige Aufgabe, betont der Brite, der neben seiner Tätigkeit in Berlin zahlreichen anderen Verpflichtungen nachgeht: Er ist ständiger Dirigent an der Opera North in Leeds sowie musikalischer Leiter des in Lancaster ansässigen Haffner Orchestra, der Young Sinfonia der Royal Northern Sinfonia von Newcastle sowie des Chores der Universität von Manchester. In der Tradition der englischen Cathedral Choirs, die eher einer klaren, fast scharfen Klangvorstellung folgen, kann Doyle in heimatlichen Gefilden seine präzise Technik zeigen, während er mit dem RIAS Kammerchor in warme, „luxuriöse“ Tiefen abtaucht. Seit dessen Gründung 1948 begegnet man diesem Klang in Programmen, die ein breitgefächertes Repertoire abdecken und mit großem Wissen interpretiert werden. Fokussiert betrachtet seien es drei Säulen, sagt Doyle: Die Musik von Johann Sebastian Bach, die weit ausholenden Werke der Spätromantik und schließlich die zeitgenössische Musik mit zahlreichen Auftragswerken.
Salzburger Flair im Berliner Dom
Ganz ohne Neues – dafür aber neu zu hören – ist das Programm im Berliner Dom gestaltet, das Salzburg an die Spree holt. Im Zentrum stehen das Kyrie und Gloria aus der „Missa Salisburgensis à 53 voci“ von Heinrich Ignaz Franz Biber. Die Uraufführung fand vermutlich 1682 im Salzburger Dom anlässlich des 1100-jährigen Bestehens des Bistums Salzburg statt. „Dieses Werk wird nicht oft live aufgeführt, da es sehr komplex ist“, erklärt Doyle. „Aber ich denke, es wird einer der aufregendsten und spektakulärsten Abende.“ Und wenn der für seine Behutsamkeit bekannte Brite es mit solch deutlichen Superlativen formuliert, wird der Auftritt an der Spree wohl ein starker werden.
Justin Doyle dirgiert Johann Sebastian Bach: