Bemerkenswert kontrolliert und beherrscht wirkt Klaas Stok beim Treffen zwischen zwei Proben. Keine seiner Ausführungen hat auch nur ein Wort zuviel. Überrascht sei er gewesen, wie gut sich der große Saal der Elbphilharmonie für A-cappella-Musik eigne. Das Wissen um die historische Aufführungspraxis sei schon wichtig, ebenso wichtig sei aber auch, eine persönliche Klangsprache zu finden und sich nicht sklavisch an die Usancen der jeweiligen Epoche zu halten, in der dieses oder jenes Werk entstanden ist. Man sei eben kein Museum und lebe in der Jetztzeit.
Anders verhält es sich, wenn der Niederländer über die holländische und die deutsche Chorlandschaft zu sprechen kommt. Dann sprudelt es aus ihm nur so heraus. Ein Dirigentenname nach dem nächsten fällt, Chöre werden nach Größe und Repertoireausrichtung hin charakterisiert und miteinander verglichen. Für derartige Ausführungen ist Stok geradezu prädestiniert, hat er doch in seiner Karriere mit einer Vielzahl an niederländischen Chören zusammengearbeitet. Auch bei der Frage, wie er den NDR Chor beschreiben würde, ringt er nicht lange nach Worten. Vor allem flexibel sei der Chor, der eine „wirklich schöne A-cappella-Tradition begründet hat, der aber auch sinfonische Werke hervorragend singt“, schwärmt Stok, um dann wortreich auf den besonderen Klang des Chores zu sprechen zu kommen. Der sei „rund und warm und doch hell – eben so, wie ich Chorklang liebe!“
… und zum Einstand Bachs h-Moll-Messe
Die Harmonie zwischen Dirigent und Chorsängern kommt nicht von ungefähr, denn viele Eigenschaften treffen sowohl auf Stok als auch auf den Chor zu. Beide sind beispielsweise hinsichtlich des Repertoires sehr flexibel und breit aufgestellt. „Wir haben aber auch gemeinsam, dass wir vom Notentext, vom musikalischen Stil her denken, dass wir Alte Musik wie Alte Musik klingen lassen und romantischen Werken eine romantische Klangfarbe verleihen.“ Seit dieser Saison ist Klaas Stok Chefdirigent des NDR Chors, mit dem er schon während der Amtszeit seines Vorgängers Philipp Ahmann zusammengearbeitet hat. So erarbeitete er seit 2014 jedes Jahr mit dem Chor ein Projekt und studierte mit ihm Händels Messias oder Bachs Weihnachtsoratorium ein. Mit solchen Schwergewichten im Rücken war im letzten Herbst offensichtlich keine allzu große Zeitspanne des Kennenlernens nötig, wagte er doch mit Bachs großformatiger h-Moll-Messe beim Antrittskonzert den Sprung ins kalte Wasser.
Johann Sebastian Bach ist für Stok „das A und O. Eigentlich habe ich zwar schon immer alle Musikstile geliebt. Mein Schwerpunkt war anfangs aber doch der Barock. Als Organist habe ich sehr viel Bach und norddeutsche Barockmusik, etwa von Buxtehude, gespielt.“ Für Stok ist jede Epoche die logische Fortsetzung der vorherigen. „Das ist ein ganz anderer Ansatz, als wenn man von der Gegenwart aus zurückblickt.“ Man könnte darin auch eine Analogie zu seiner eigenen Karriere sehen, die mit dem Studium der Kirchenmusik begann. Nebenfächer wie Cembalo und Chorleitung machte er dabei zu Hauptfächern: „Ich sah mich schon immer eher als Musiker denn als Organist oder Chorleiter.“
Organist und Chorleiter: Klaas Stok
Als Organist ist Stok an der Stadtorgel zu Zutphen tätig, doch das Dirigieren nahm schon bald nach dem Studium das Zentrum seines Schaffens ein, als er Assistent von Uwe Gronostay beim Nederlands Kamerkoor wurde. „So wurde ich immer mehr in die professionelle Chorwelt eingebunden. Aber es wäre auch möglich gewesen, dass ich in einer großen Stadtkirche Organist geworden wäre. Was ich ebenfalls schön gefunden hätte.“ Doch auch als Leiter eines weltlichen Konzertchores sieht er in seinem Wirken eine religiöse Komponente: „Als ich letztens wieder die Matthäus-Passion dirigiert habe, ist mir aufgefallen, dass viele Leute zwar nicht mehr in die Kirche gehen, jedoch sehr wohl die Matthäus-Passion besuchen.“ Auch das sei eine Art von Religiosität, denn gerade sakrale Musik, auch wenn sie in weltlichem Rahmen erklinge, gäbe den Menschen das Gefühl, „Teil zu sein einer größeren Gegenwärtigkeit“. Und plötzlich blitzt sie wieder hervor, die Leidenschaft von Klaas Stok.
Klaas Stok dirigiert den Netherlands Radio Choir mit Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“: