4’33’’, das musikalische Werk ohne Musik, ist heute eines der am häufigsten kopierten Stücke in der Musikgeschichte. Schulklassen, Death Metal Bands, A capella-Gruppen, sogar Nola die Katze coverten es fehlerfrei. Witze à la „Fragt der eine Musiker den anderen: ‚Wollen wir Pause machen oder 4’33’’ spielen?’“ entstanden mit der Zeit. Kein Wunder, dass 4’33’’ John Cage bis heute zu einem der bekanntesten Vertreter Neuer Musik macht.
Dabei wollte der am 5. September 1912 in Los Angeles geborene Cage eigentlich etwas anderes machen. Nach der Schule studierte er zunächst Literatur und Architektur, brach beides ab und reiste mit seinem Freund Don Sample quer durch Europa, bevor er zum Komponieren kam. Weitere Interessen Cages galten dem Sammeln und Studieren von Pilzen und dem Zen-Buddhismus.
Wenn das Los über die Komposition entscheidet
Von Arnold Schönberg beeinflusst, entstanden während seiner Europareise auf Mallorca die ersten Kompositionen. „Die Musik, die ich komponierte, folgte einer mathematischen Methode, an die ich mich nicht mehr erinnere. Sie kam mir selbst nicht wie Musik vor, also ließ ich sie, als ich Mallorca verließ, zurück, um mein Gepäck nicht zu beschweren.“ Später entschied nicht mehr die Logik der Mathematik über seine Werke, sondern der Zufall. Nach dem Prinzip der Aleatorik komponierte er anhand von Losentscheidungen durch chinesische Orakelbücher und Computer, Münzwürfen oder Würfeln. Für John Cage zählte der Schaffensprozess mehr als das fertige Werk, er wurde also Rezipient seiner eigenen Kompositionen.
Genau wie sein Vater, war auch John Milton Cage jr. ein Erfinder, nicht nur von Musik und neuen Kompositionsmethoden, sondern auch von Musikinstrumenten. Das bekannteste ist das von ihm entwickelte Präparierte Klavier, an dessen Saiten er Radiergummis, Schrauben oder Holzstöckchen befestigte und dadurch neue Klänge erzeugte. Die Idee kam ihm, als er in die Küche ging, einen Kuchenteller nahm, ihn ins Wohnzimmer brachte und auf die Klaviersaiten legte. Später komponierte er eigene Stücke für Präpariertes Klavier solo oder mit Ensemble.
Bedeutsame Stille
Im Sommer 1952 inszenierte Cage während seines Lehrauftrags am Black Mountain College, sein „Untitled Event“, das erste „Happening” in der Kunstgeschichte überhaupt, lange bevor es dieses Wort gab. Mit dabei waren sein langjähriger Lebenspartner, der Tänzer und Choreograf Merce Cunningham, der Künstler Robert Rauschenberg, der Pianist David Tudor und weitere Größen aus Kunst und Kultur. Cage gab lediglich die Zeiträume vor „in denen sie etwas aufführen, eine Pause machen oder still sein sollten“, die genaue Aktivität blieb jedem Künstler selbst überlassen.
Beeinflusst durch Rauschenbergs „White Paintings“, weiß bemalte Leinwände, die Stille thematisieren, komponierte John Cage 4’33’’. Die Uraufführung am 29. August 1952 löste beim New Yorker Publikum einen Schock aus, denn zu hören war – genau: nichts. Cage hatte als einzige Vorgabe für die drei Sätze „Tacet“ angegeben, also Stille. Der Pianist David Tudor zeigte die Sätze allein durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels an. Der Titel ist indes Programm: Für die Uraufführung hatte Tudor nämlich die Dauer der Sätze mit 33 Sekunden, zwei Minuten 40 Sekunden und einer Minute 20 Sekunden erwürfelt.
639 Jahre Cage
Die Musik von John Cage ist bis heute geblieben. Dafür sorgt unter anderem das Städtchen Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Dort wird seit 2001 Cages Werk „ORGAN2/ASLSP“ auf der John-Cage-Orgel aufgeführt und soll insgesamt 639 Jahre andauern.
Im Winter 2010 nahmen einige Popkünstler 4’33’’ in einem Anflug von Last-Christmas-Casting-Show-Kitsch-Verweigerung neu auf und manövrierten Cage in die Charts. Das zeigt: Jeder kann Cage! Und genau das macht ihn über die Avantgarde-Szene hinaus anschlussfähig.
Was von John Cage bleibt
Cage hat es neben Mozart und Beethoven geschafft, sich in der heutigen Kultur zu etablieren; und das, obwohl seine Musik lange als zu elitär für das breite Publikum angesehen wurde. Aber die vielen Interpretationsmöglichkeiten seiner Werke bieten auch der breiten Masse die Chance, sich auf ihre eigene Art und Weise mit ihm auseinanderzusetzen.
Kurz vor seinem 80. Geburtstag starb der große Avantgardist, aber seine Ideen sind heute so lebendig wie noch nie. Das Präparierte Klavier gibt es als App fürs Smartphone, das Toy Piano hat sich dank ihm zu einem mehr oder weniger ernst zu nehmenden Musikinstrument entwickelt und Musikliebhaber werden sich vermutlich auch in Zukunft noch die Zeit mit schlechten John-Cage-Witzen vertreiben.
Eine Aufführung von 4’33’’:
„Sonata II For Prepared Piano:
„Dream“:
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