An das Datum ihrer Ankunft in Berlin erinnert Konstantia Gourzi sich noch genau. Es war der 21. Oktober 1987. Ein Samstag. „Ich dachte, ich komme in ein Musikparadies, dass alle Leute hier perfekt und die Professoren Halbgötter sind, erlebte dann aber zunehmend eine menschliche Enttäuschung“, blickt die Komponistin und Dirigentin auf die ersten Jahre in ihrer neuen Wahlheimat zurück. „Das Dirigieren wurde uns als eine Machtrolle beigebracht und nicht als kreative Äußerung der Musik und dem Klang gegenüber.“ Auch in ihren Ambitionen als Komponistin fühlte Gourzi sich anfangs beschnitten, abgeschnitten gar vom kulturellen Erbe ihrer griechischen Heimat: „Beim Kompositionsunterricht bei Frank Michael Meyer und seinem Schüler Franz Martin Olbrisch überraschte mich, dass ich keine Melodien schreiben, keinen Viertel- oder Dreiviertel-Takt verwenden durfte. Das waren die Neue-Musik-Regelungen Ende der 1980er-Jahre. Ich sollte also alles vergessen, was meinen Kulturkreis geprägt hat.“
Die griechische Identität mit neuen Stilistiken verknüpfen
Doch Gourzi, die 1962 in Athen geboren und in deren Familie viel privat musiziert wurde, wollte sich diesem Diktat nicht unterwerfen, empfindet die Globalisierung künstlerischer Stilistiken als eine Gefahr, „die Menschen der jüngeren Generation in ein bestimmtes System hineinzwingt, so dass sie vergessen, woher sie kommen. Das erzeugt ein oberflächliches Denken, das mit dem Stress verbunden ist zu erfüllen, was von einem erwartet wird.“ Gourzis Antennen sind dagegen immer auch nach innen gerichtet. Es geht ihr darum, in ihrer Musik die griechische Identität mit dem zu verbinden, was sie in Deutschland gelernt hat. Etwa von György Kurtag, dem sie erstmals Anfang der 1990er-Jahre begegnete, von Karlheinz Stockhausen, dessen Seminare sie besuchte, von Claudio Abbado, dem sie 1995 für einige Monate assistierte, sowie von vielen anderen Gastdirigenten der Berliner Philharmoniker, von deren Proben sie sich kaum eine entgehen ließ. „Berlin war in dieser Zeit eine große Schule für mich und meine Persönlichkeit.“
Der Inhalt zählt, nicht die Verpackung
Noch während ihres Studiums gründete Konstantia Gourzi attacca berlin. Damit hatte die Hochschule der Künste erstmals ein Ensemble für Neue Musik, das auch die Werke der Kompositionsklasse aufführen konnte – mit einer Frau am Dirigentenpult. Das war damals alles andere als üblich. Viel zu oft darauf angesprochen, ist Gourzi der Fragen überdrüssig: „Das sind doch alles unmusikalische Informationen. Ich verstehe auch nicht, warum wir uns heute, 34 Jahre später, immer noch mit dem Thema Mann/Frau beschäftigen. Es geht um den Inhalt und nicht um die Verpackung.“
Die Inhalte, mit denen Gourzi sich beschäftigt, sind vielfältig. Nachdem sie acht Jahre lang das Berliner ensemble echo geleitet hat, gründete sie in München das ensemble oktopus an der Hochschule für Musik und Theater München, wo sie seit 2002 eine Professur für Ensembleleitung Neue Musik innehat. Mit ihrem Netzwerk und Ensemble opus21musikplus sucht sie zudem den Kontakt zu anderen Kunstformen und Musikrichtungen. Grenzüberschreitend mag man das gar nicht nennen, weil Grenzen für Gourzi scheinbar nie existiert haben und sie – auch als Dirigentin – immer das Miteinander sucht. Nimmt sie das Werk einer zeitgenössischen Komponistin in ihr Programm auf, möchte sie vor Probenbeginn im persönlichen Kontakt möglichst viel über den Menschen erfahren.
„Ich bin in der griechischen Tradition aufgewachsen und halte es mit Heraklit, der sagt, das Eine ist ein Teil des Ganzen und das Ganze ist ein Teil des Einen. Es gibt da eine Basis einer großartigen Gemeinsamkeit, und unser Ziel scheint es seit Jahrhunderten zu sein, uns voneinander zu trennen. Das passt nicht zusammen. Man hält an seine Individualität fest, als ob man im ,Wir‘ etwas verlieren würde. Aber wir würden im Gegenteil viel mehr gewinnen.“
Durch Malen und Schreiben zur Musik finden
Doch auch im „Wir“ verlangt der kompositorische Prozess, die Suche nach der richtigen Form oft nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Selbstbesinnung: „Ich muss immer den Grund finden, warum ich etwas tue, und versuche danach, durch Malen und Schreiben von Gedichten herauszufinden, wie ich meiner Idee am besten dienen kann. Ich habe kein Rezept und fange jedes Mal wieder ganz von Anfang an, das ist mein persönlicher Weg.“ Und auch eine besondere Qualität, die sich in Gourzis breitem Œuvre widerspiegelt, das neben Werken für verschiedenste Soloinstrumente, Kammer-, Orchester- und Theatermusik auch die Musik für Christian Wagners Spielfilm „Stille Sehnsucht – Warchild“ umfasst. Die wohl heikelste und schwierigste Aufgabe jedoch wurde 2018 an Gourzi herangetragen, als das Erzbischöflichen Ordinariats München und Freising bei ihr anlässlich der Eröffnung des Masterstudiengangs Safeguarding am Kinderschutzzentrum der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom ein Stück über Kindesmissbrauch in Auftrag gab.
„Das war sehr schmerzhaft. Ich musste mit Texten von Opfern umgehen und habe auch mehrere Opfer kennengelernt. Überraschend haben plötzlich auch Freunde und Bekannte von ihrem eigenen Missbrauch gesprochen. Nach der Aufführung haben mir die Opfer erzählt, wie die Musik ihnen geholfen hat, sich mit ihren Erlebnissen auseinanderzusetzten und sie hinter sich zu lassen. Das war auch mein Wunsch und Ziel. Die Musik kann uns heilen und Wege zeigen, die wir mit Rationalität allein nicht finden können.“