Die Premiere ein Sommernachtstraum auf dem Grünen Hügel, der Morgen hernach wie aus dem Festspiel-Bilderbuch: Am Abend dirigierte Marcus Bosch auf dem Schlossberg von Heidenheim Puccinis La Bohème. Modern, doch nicht modernistisch, als stimmungspralles Spektakel mit ganz viel psychologischer Wahrhaftigkeit hat Petra Luisa Meyer hier das angebliche Rührstück in Szene gesetzt. Bosch, der Puccini ganz genau und kitschfrei liest und so als frühen Impressionisten outet, ist mehr als zufrieden. „Das Festival erzählt der Stadt und ihren Menschen, in welcher Schönheit sie leben.“ Eine Journalistin schwärmt schon, Heidenheim sei auf dem besten Weg zu einem deutschen Glyndebourne.
Der gebürtige Heidenheimer ist Festivalintendant im Nebenberuf. Als Generalmusikdirektor am Staatstheater Nürnberg hat er gerade einen international für Aufsehen sorgenden Ring geschmiedet, vor seiner Zeit im Fränkischen brachte er das Stadttheater in Aachen als jüngster GMD der Opernrepublik auf die überregionale Landkarte. Seine Sommerfrische verbringt Bosch nun in der Heimat – „ein Ort, an dem ich glücklich bin“. Und wo er die Doppelverantwortung als dirigierender Intendant genießt. „Die Opernfestspiele Heidenheim wachsen und damit auch die Aufgaben. Von Grund auf etwas gestalten zu können, ist wunderbar. Und am Abend dennoch so viel gute Musik wie möglich zu machen. Alles dient der Kunst.“ Als Gastgeber seinem Publikum selbst „Guten Abend“ zu sagen und dann ans Pult zu treten, ist eben eine Spur persönlicher als an den großen Häusern. So entstehen echte Bindungen.
Das Wagnis, Verdi historisch zu interpretieren
Ein Intendant zum Anfassen kann sein Publikum dann auch mit besonders hohem Anspruch locken und herausfordern – musikalisch wie dramaturgisch. In einer auf acht Jahre angelegten Reihe erkundet Bosch den jungen Verdi mit jungen Regisseuren. Im Festspielhaus setzte Tobias Heyer im August den Erstling Oberto in Szene. Im hochgefahrenen Graben wagte Bosch dazu mit seiner Cappella Aquileia, Verdi in historischer Aufführungspraxis zu interpretieren, was in dieser Form und Konsequenz letztlich nur bei einem Festival möglich ist. Es spielen nur acht erste Geigen, dazu Ventilposaunen und alte Trompeten. „Die Blechbläser damals hatten andere, ganz charakteristische Farben. Regisseur und Dirigent müssen heute gemeinsam neu über die Frage der Balance zwischen Orchester und Bühne nachdenken. Es geht mir um eine intensive Interaktion. Denn keine dieser Partituren ist für etwas anderes als Rampentheater geschrieben worden, die Sänger standen direkt hinter dem Orchester. Heute nimmt die Regie nicht zuletzt in klanglicher Hinsicht große Eingriffe in die Partituren vor, schließlich spielte die Tiefe des Raums zur Uraufführung überhaupt keine Rolle.“
Regisseur und Musiker müssen eng zusammenarbeiten
Marcus Bosch vertritt mit Verve den Team-Gedanken, wenn es um das Zusammenspiel von Musik und Szene geht. Ideal habe er diese Vision sowohl mit Jochen Biganzoli an der Hamburgischen Staatsoper in der Erstaufführung von York Höllers Oper Der Meister und Margerita umgesetzt, als auch mit Georg Schmiedleitner in Nürnbergs Der Ring des Nibelungen, mit dem er sich vor der Erarbeitung der Tetralogie vier Tage an die Rheinschlucht gesetzt hat, um gemeinsames Vertrauen zu schaffen und das Konzept abzustimmen. Begeistert ist Bosch von Peter Konwitschny, mit dem er Boris Godunow auf die Bühne bringt und mit dem er in Nürnberg auch die gigantomanische Grand Opéra Les Troyens von Berlioz interpretieren wird. „Wenn ein Regisseur so genau Musik hören und befragen kann wie Peter Konwitschny, dann wächst in jedem Takt zusammen, was zusammen gehört.“
Mit manchen Schauspiel-Regisseuren ist dieser enge Austausch weniger selbstverständlich: „Aus Unsicherheit und Unwissenheit haben sie Angst, über Musik zu reden, und verlassen sich auf das Libretto.“ Gleichwohl könne spannende Regie entstehen, gerade weil es keine Denkverbote gibt. Wenn Intendanten ihm aber sagen: „Das Stück kann nur ein Schauspielregisseur machen“, fragt er gern nach dem „Wieso“. Teams dürften nicht auf dem Papier zusammengestellt werden, es braucht Zeit, ein Stück gemeinsam zu denken und zu bedenken.“ Dazu gehört zwingend die musikalische Perspektive: „Das Publikum kennt den Verwöhnklang von der Platte, der mit der Theaterwirklichkeit nur nichts zu tun hat.“ Viele Menschen sagten in der Pause, das Orchester sei zu laut: „Wenn ein Regisseur den Sänger in einer Fortissimostelle ganz nach hinten stellt, kann ich das Orchester nie weit genug zurückfahren.“ Bosch fragt: „Worin besteht die Rolle des Orchesters? Darin, eine Folie für die Regie zu sein, oder ein echter Partner in der Darstellung eines musiktheatralischen Raums?“
Wer es allen recht gemacht hat, hat etwas falsch gemacht
Solche im besten Sinne handwerklichen Fragen zu stellen, kommt nicht immer gut an. In Zeiten der Dekonstruktion einstmals heiliger Werke ist das Handwerk zum Kampfbegriff geworden. „Können wird heute oft mit Kunsthandwerk gleichgesetzt und Exotik mit Kunst. Wir haben die Situation, dass die bloße Exotik als Hype sehr hoch gehandelt wird.“ Doch wirkt letztere nicht auch karrierefördernd? „Man muss bei sich selber bleiben. Mir lange Haare wachsen zu lassen, mit einem roten Pulli unterm Frack zu dirigieren und barfuß aufzutreten wären Dinge, über die man sich in einer medialen Welt definieren kann.“ Nach wenigen Jahren ist dann aber oft auch Schluss mit dem Hype. Marcus Bosch ist Verfechter des kontinuierlichen und mühevollen Weges vom Korrepetitor zum 2. Kapellmeister, vom 1. Kapellmeister zum GMD. „Der Weg durch die Institutionen ist ein sehr guter. Aber er ist schwieriger geworden, weil die Ochsentour die Menschen abschleift. Manche junge Leute sind zehn Jahre Kapellmeister, haben es am Ende allen nur Recht gemacht. Den Solisten mit langer Erfahrung, dem Orchester, das es immer schon so und nicht anders gemacht hat. Dann kommt man für eine Führungsposition nicht mehr in Frage. Jetzt setzen sich die angeblich so spannenden Exoten durch.“ Die wirken im Musikmarkt frisch, großartig, gar genial. Statt immer mehr Dirigierwettbewerbe ins Leben zu rufen, fordert der Maestro die Förderung von Repetitoren: „Der 20-jährige Dirigent kann ja nicht zehn Jahre lang die Opern mit Sängern erarbeitet und repetiert haben. Durch den Jugendwahn der Frühförderung laufen Sänger und Dirigenten wie zwei nicht kommunizierende Röhren nebeneinander her. Sänger müssen verstehen, was ein Dirigent macht, und umgekehrt.“ Zentrales Ziel seiner neuen Dirigierprofessur in München ist deshalb die Durchlässigkeit, die zu wirklicher gemeinsamer Arbeit führt.