Das ist doch mal was: Das finanziell notorisch klamme Bremen hat gleich zwei neue Generalmusikdirektoren berufen. Was Kulturskeptikern vordergründig als Luxus erscheinen könnte, macht in Zeiten der maximalen medialen Ablenkung, in denen das Publikum immer unberechenbarer wird und die Traditionen des klassischen Bildungsbürgertums zunehmend bröckeln, durchaus Sinn.
Eine neue Zeit bricht an in Bremen
Zwei Generationen, zwei unterschiedliche künstlerische Temperamente: Marko Letonja, 56, der bereits an so wichtigen Häusern wie der Mailänder Scala, der Bayerischen Staatsoper und der Dresdner Semperoper reüssiert hat; und Yoel Gamzou, gerade mal dreißig, von der schnelllebigen Klassikbranche zum neuen Lieblingskind erkoren. Spannend wird in den nächsten Jahren zu beobachten sein, wie sich die Doppelspitze gegenseitig ergänzt und zusammenarbeitet. Mit der Berufung des slowenischen Dirigenten Marko Letonja zu ihrem Generalmusikdirektoren bräche für sie „eine neue Zeit“ an, haben die Bremer Philharmoniker mit einer breit angelegten MarketingKampagne postuliert.
Es sei eine Liebesheirat, so die Mitglieder des Orchesters, das nach einer glanzvollen Dekade unter der Leitung von Markus Poschner auf der Suche nach einer neuen Identifikationsfigur war. Mit Marko Letonja habe man in den vergangenen Jahren die besten Erfahrungen gemacht, er sei der absolute Wunschkandidat des Orchesters gewesen, betont Philharmoniker Intendant Christian Kötter-Lixfeld. Gut Ding will bekanntlich Weile haben. Und so hat der eine von Bremens neuen Generalmusikdirektoren als scheidender Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Strasbourg noch einige Verpflichtungen zu erfüllen. Seine leitende Position beim Tasmanian Symphony Orchestra hat er inzwischen aufgegeben.
Bis er sich in Bremen voll und ganz auch auf die Oper konzentrieren kann, wird es dennoch ein Weilchen dauern. In der Saison 2018/19 wird er sich mit seinem neuen Orchester also erst einmal intensiv mit dem sinfonischen Repertoire auseinandersetzen. Setzte sein Vorgänger Markus Poschner besondere Akzente mit den Spätromantikern – unvergessen ist etwa sein rauschhafter Mahler-Zyklus –, aber auch als lockerer Jazz-Pianist, möchte Letonja nun vor allem jene musikalischen Schätze heben, die in Bremen lange nicht zu hören waren. So liebe er Hindemiths „Symphonie Mathis der Mahler“ genauso wie die sinfonische Musik von Béla Bartók sowie die Komposition „D’un soir triste“ der früh vollendeten Lili Boulanger, die 1918 mit gerade mal 25 Jahren starb. Mit den beiden letztgenannten Werken wird der GMD in der zweiten Septemberhälfte im ersten Philharmonischen Konzert seinen offiziellen Einstand geben.
Demokratisch gesonnener Primus inter Pares
Dass Letonja allerdings auch ganz anders kann, zeigte er beim Neujahrskonzert 2018, als er locker-flockig moderierend und im Bandleader-Stil lässig auf dem Podium agierend unter anderem die Ouvertüre zu Richard Rodgers’ Musical „South Pacific“ und Leonard Bernsteins „Symphonic Dances from West Side Story“ dirigierte. Spätestens dann war klar, dass der Mann nicht nur am Dirigenten-Pult ein demokratisch gesonnener Primus inter Pares ist, sondern auch ein absolutes Händchen für den Umgang mit dem Publikum hat, das eben nicht nur konsumieren, sondern auch partizipieren soll, so sein Wunsch.
In diesem Punkt treffen sich die beiden Bremer GMDs. So wird GMD Marko Letonja zu den fünf von ihm dirigierten Konzerten höchstpersönlich die Einführungen halten. Außerdem wird er die Haupt- und Generalproben der Philharmonischen Konzerte gerade auch für ein neues Publikum öffnen, um diesem die Schwellenangst vor der klassischen Musik zu nehmen. Und Yoel Gamzou, der neben seinem dirigentischen auch sein Moderationstalent in der Geburtstags-Gala für Bernstein bewies, kündigte erst jüngst an, dass er quasi mit der „Oper im Koffer“ Jugendfreizeitheime, aber auch Altenheime besuchen und notfalls zu denjenigen, die noch nie in der Oper waren, nach Hause kommen wolle, um ihnen diese Kunstform nahezubringen. Zusätzlich hat er ein neues Familienkonzert-Format aufgelegt.
Unterteilung zwischen E- und U-Musik unerwünscht
„Wir haben keine Glaskugel und können nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird“, hatte Christian Kötter-Lixfeld in der Saison-Pressekonferenz gesagt. Dank einer blendenden Auslastung brauchen sich die Philharmoniker da noch keine Sorgen zu machen. Michael Börgerding, Generalintendant des Theaters Bremen, räumte wiederum erst kürzlich bei einem Spielzeit-Resümee ein, dass das Musiktheater schon das Sorgenkind des Vier-Sparten-Hauses sei. Während der Ticketverkauf für eine umstrittene, statisch inszenierte, von Gamzou dafür mit viel Walzerschwung dirigierte „Fledermaus“ mehr als zu wünschen übrig ließ, spülte das als Schauspiel-Produktion deklarierte, ständig ausverkaufte David-Bowie-Musical „Lazarus“, von Tom Ryser wie ein MTV-Video-clip in Szene gesetzt, Geld in die Theaterkasse. Es sollte sich allerdings erweisen, dass Fans der Pop-Ikone mit der klassischen Oper so gar nichts am Hut haben. Die Theaterleitung muss sich schon fragen lassen, ob es das richtige Mittel sein kann, mit popkulturellem Mainstream dem Publikumsschwund im Musiktheater etwas entgegenzusetzen. Gamzou, der die Unterteilung in sogenannte U- und E-Musik hasst, hatte im Dezember 2017 betont, dass das Elitäre genauso tödlich für die klassische Musik sei wie das vermeintlich coole Anbiedern an die Popkultur.
Kosmopolit, Autodidakt und Senkrechtstarter: Yoel Gamzou
Während Marko Letonja, der im persönlichen Gespräch oft seine Selbstironie und seinen Humor aufblitzen lässt, an den Musikakademien von Ljubljana und Wien sein Studium absolvierte, ist Yoel Gamzou Autodidakt. Er lebt seine große Leidenschaft, die Musik, mit jeder Faser seines Körpers. Und die Zuneigung zu seinem Bremer Orchester zeigt er gerne mal, indem er die Musikerinnen und Musiker nach getaner Arbeit voller Enthusiasmus umarmt. Für den Teenager Yoel wurde der italienische Dirigent Carlo Maria Giulini zum entscheidenden Lehrer und Mentor. Gamzous Bewunderung gilt bis heute nicht nur ihm, sondern auch Leonard Bernstein, Carlos Kleiber und Wilhelm Furtwängler. Der Kosmopolit, der in Tel Aviv, London und New York aufwuchs, hat bislang eine Blitzkarriere hingelegt, da macht Bremen keine Ausnahme. Mit 25 Jahren Erster Kapellmeister und etwas später Stellvertretender Generalmusikdirektor am Staatstheater Kassel, seit Beginn der Saison 2017/2018 Musikdirektor am Theater Bremen mit einem fulminanten Debüt, bei dem er Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ mit jugendlichem Sturm und Drang dirigierte. Und als vorläufige Krönung: Die Auszeichnung mit dem Echo-Klassikpreis als bester Nachwuchsdirigent des Jahres 2017 für die Einspielung seiner eigenen, radikal zu Ende gedachten, vervollständigten Version von Mahlers unvollendeter zehnter Sinfonie. Im Januar 2018 wurde Gamzou in Bremen zum Generalmusikdirektor befördert und sein Vertrag vorzeitig bis 2022 verlängert.
Zwei unterschiedliche Biografien, zwei unterschiedliche künstlerische Temperamente. Yoel Gamzou zeichnet in der Saison 2018/19 noch allein für die Opernsparte verantwortlich. Zum Spielzeitauftakt wird er am 16. September Beethovens „Fidelio“ in der Inszenierung von Paul-Georg Dittrich, einem der vielversprechendsten Nachwuchstalente der Regie-Szene, dirigieren. Im Frühjahr folgt für Gamzou mit „L’Ètoile – das Horoskop des Königs“ eine selten gespielte Rarität von Emmanuel Chabrier und Korngolds „Die tote Stadt“. Das Opernsujet, das er verhältnismäßig spät für sich entdeckte, ist für ihn zu einem Kraftort geworden, den er gern auch dem Publikum erschließen möchte. Mit Marko Letonja ist sich Yoel Gamzou ganz sicher: „Bei uns im Theater können die Menschen das erleben, was sie nirgendwo sonst bekommen! Denn ein solches Potenzial mit dieser Tiefe und diesem emotionalem Reichtum hat kein anderer Ort!“