Bisher dürfte ihr Name vor allem Fans der historischen Aufführungspraxis ein Begriff sein. Midori Seiler ist als Konzertmeisterin der Akademie für Alte Musik Berlin und von Anima Eterna meist im Verband eines Ensembles oder als Solistin mit ihm zu erleben. Doch bei Bachs Partiten, die sie 2011 auf CD aufgenommen hat, ist jeder Künstler ganz allein. „Man ist da in seiner ganzen Person“, sagt sie, „sehr ungeschützt und ungefiltert. Man kann sich nicht hinter einem Partner verbergen, seinem Aussehen oder seinem Klang, man ist ganz auf sich gestellt.“
Gut, dass die Tochter einer japanischen Pianistin und eines bayerischen Pianisten alles mitbringt, was man für diese Musik braucht. Da wäre zunächst einmal eine große Ruhe und Gelassenheit, die von Midori Seiler ausgehen. Ob das daran liegt, dass sie sich die nötige Zeit nimmt, um das zu formulieren, was sie zu sagen hat? Das rhetorische Element der Bachschen Musik ist ihr jedenfalls besonders wichtig. Und die Spannung zwischen den verschiedenen Stimmen und Melodien, die der Polyphoniker Bach auch in dieser einstimmigen Musik versteckt hat. „Es geht hier oft nicht um lineare Entwicklungen, sondern um abrupte Veränderungen im „normalen“ Verlauf. Bach leistet sich Überraschungen, kleine Extra-Geschenke, auch mal einen Tritt vors Schienbein. Die Dinge verlaufen ganz anders, als man erwarten würde. So entsteht diese interaktive Struktur.“
Dazu kommt der Reichtum an Farben, den Seiler, die als Professorin in Weimar Barockvioline unterrichtet, ihrem Instrument entlockt. Während auf einer modernen Geige alle Saiten möglichst gleich klingen sollen, folgt sie dem barocken Schönheitsideal: Jede Saite hat ihren eigenen Charakter: „Die D-Saite ist griffig-rauchig, die G-Saite schwer und silbern, die A-Saite hat eine Wärme und die E-Saite Glanz.“ Noch Leopold Mozart schlägt in seiner Violinschule vor, man könne eine Melodie ruhig auf einer Saite spielen, wenn man die Klangfarbe nicht verändern wolle – erst das 19. Jahrhundert suchte Instrumente ohne Register-Klangfarben.
Schließlich verfügt Midori Seiler auch über die extreme technische Versiertheit, ohne die man sich an den Olymp der Geigenliteratur nicht heranwagen kann. Wobei man die Mühe, die er macht, gelegentlich durchaus hören darf: „Wenn ich ein gequältes Suchen eines Individuums darstellen will, dann darf das auch nach Mühe klingen. Wenn ich dagegen einen strahlenden polyphonen Satz realisieren will, wie bei einer Kirchenorgel, darf da keine Mühe mitklingen.“ Natürlich dürfe der Zuhörer dabei niemals das Gefühl bekommen, der Interpret sei an die Grenzen seiner eigenen Technik gestoßen. Aber die Gefahr besteht ja zum Glück nicht bei dieser Geigerin.
Und wie unterscheidet sich die Live-Version von der CD? Das hängt nicht zuletzt vom Publikum ab. Nur, wenn man schon beim Auftritt diese bestimmte Atmosphäre spüre, die gespannte positive Erwartung, so sagt Midori Seiler, könne ein Konzert wirklich gelingen. Und nur dann sei es möglich, der Inspiration des Augenblicks nachzugeben, der das Live-Erlebnis so kostbar macht.