Der Meister steigt aus dem Flugzeug, an jeder Hand ein Cellokasten, wobei die Linke auch noch die Leine seines munter vorantrottenden Hundes „Kooya“ hält. Ein Fotograf hat diese Szene festgehalten, gedruckt wurde das Bild großformatig in der Montagsausgabe der Daily Mail vom 27. Mai 1974. Das Foto wirkt geradezu idyllisch, ganz so, als würde der weltberühmte Cellist während einer Tournee in Großbritanniens Hauptstadt Halt machen, um dort ein Konzert zu geben. Doch der wahre Beweggrund von Herr und Hund, nach London zu reisen, ist tragisch und markiert eine Wende im Leben des Musikers: 1974 – Rostropowitsch war damals 47 Jahre alt – war das Verhältnis zwischen ihm und den Machthabern der Sowjetunion derart zerrüttet, dass seine (verbotene) Ausreise nach London in Wahrheit eine Flucht vor dem Regime war.
Schon damals war er eine lebende Legende. Wobei der extrovertierte, lebensfrohe Künstler das schon sehr früh war aufgrund seines sprühenden Humors und seiner unbeschwerten Heiterkeit. „Sonnenblume“ nannten ihn daher seine Kommilitonen am Moskauer Konservatorium, an das er mit 16 Jahren zum Dirigier- und Cellostudium bei Semjon Kosolupow wie auch zum Kompositionsstudium bei Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch aufgenommen wurde. Letzterer setzte sich übrigens bei der Aufnahmeprüfung wesentlich für Rostropowitsch ein und widmete ihm sechzehn bzw. 23 Jahre später seine zwei Cellokonzerte. Rostropowitsch ließ sich zudem mitunter zu recht derbem Humor hinreißen. Seine langjährige Klavierbegleiterin Aza Amintayeva etwa nannte er „Os’ka“, ein russischer Name, der die Verkleinerungsform von „Joseph“ darstellt. Einst fand der Cellist die Pianistin schlafend vor und erschrak nach eigenen Angaben fürchterlich, da ihre entspannten Gesichtsausdruck ihn an Joseph Stalin erinnerte.
Bereits nach drei Jahren schloss Mstislaw Rostropowitsch das Studium ab, nicht zuletzt deshalb, weil er zeit seines Lebens nur drei Stunden pro Tag schlief (auch das machte ihn schon so früh zur lebenden Legende) und er daher schlicht deutlich mehr Zeit zur Verfügung hatte, um sich seinem Cellospiel zu widmen. Bald wurde er zum gefeierten Star Russlands, reiste per Flugzeug, Dampfschiff und Hundeschlitten durch die Sowjetunion, gab Konzerte an den entlegensten Orten und eilte dazwischen immer wieder in die Aufnahmestudios seines Landes. Schon damals war Rostropowitschs Mantra, er spiele nur ungern vor dem Mikrofon und fühle sich im Aufnahmestudio gehemmt, nicht allzu glaubwürdig.
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Konzertmitschnitt in der französischen Basilika Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay © Warner Classics
Aus heutiger Sicht wirkt seine ablehnende Haltung geradezu grotesk: Anlässlich des doppelten Jubiläums – der Cellist wäre am 27. März 90 Jahre alt geworden, zudem jährt sich am 27. April sein Todestag zum zehnten Mal – hat Warner eine aufwändige wie umfassende Box vorgelegt und kommt auf vierzig Alben, die das Leben des Künstlers und Humanisten klang- und eindrucksvoll dokumentieren. Gleichwohl handelt es sich bei etwas mehr als der Hälfte der Alben um Livemitschnitte, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass in Moskau die Konzerte in den meisten Fällen automatisch aufgezeichnet wurden. Somit hört man Rostropowitsch auf diesen Aufnahmen frei von seinen vielbeklagten Hemmungen im Studio.
Dass die russischen Live-Einspielungen überhaupt noch erhalten sind, grenzt an ein Wunder. So sehr er anfangs in seiner Heimat geliebt wurde, so verfemt war Rostropowitsch nach seiner Übersiedelung in die westliche Welt in den siebziger Jahren. Einspielungen von ihm boykottierten die Radiosender des Landes, sein Name wurde nicht mehr gedruckt. Doch irgendwo in den Rundfunkarchiven arbeiteten stumme, aber wirkungsvolle Fürsprecher des Cellisten: Sie entfernten auf den Schachteln der Tonbänder den Namen Rostropowitschs und bewahrten so die Tondokumente vor ihrer Vernichtung. Die Fülle der Jubiläumsbox unterstreicht aber auch eine weitere historische Leistung: Durch Rostropowitsch entstand im 20. Jahrhundert ein immenses Repertoire an neuer und vor allem neuartiger Literatur für Cello: Sergei Prokofjew, Aram Chatschaturjan, Witold Lutoslawski, Henri Dutilleux und natürlich Benjamin Britten stellen nur einen kleinen Teil jener Komponisten dar, die für ihn komponierten.
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Musikalisches Vermächtnis: die Luxus-Edition Mstislav Rostropovich – Cellist of the Century © Warner Classics
Vielleicht ist es diese alles überstrahlende Existenz als Cellist, die oft vergessen macht, dass Rostropowitsch daneben als weltweit gefragter Dirigent in Erscheinung trat. Eigentlich war nämlich das Dirigieren von Kindesbeinen an sein erklärtes Berufsziel, das der Vater – seines Zeichens Cellist, der bei Pablo Casals gelernt hat – in Teilen zu verhindern wusste. Erst als dieser 1942 starb, verfolgte er diesen Traum, entschied sich dann aber doch für eine Cellokarriere. Nach seiner Übersiedelung in den Westen beschloss er, seine Zeit zwischen Dirigieren und Konzertieren aufzuteilen. 17 Jahre lang stand Rostropowitsch als Chefdirigent am Pult des National Symphony Orchestra Washington und pflegte enge Verbindungen zum London Symphony Orchestra. Daneben „überprüfte“ Rostropowitsch sein Cello-Repertoire und nahm es in Teilen neu auf. Doch kaum war die Sowjetunion zerbrochen, reiste der Musiker zurück in seine Heimat – und gab 1990 mit „seinem“ Washingtoner National Symphony Orchestra und mit Werken „seiner“ Komponisten Schostakowitsch und Prokofjew ein denkwürdiges Konzert. Nicht nur die östliche und westliche Welt, sondern auch die beiden Lebensstränge von Rostropowitschs Leben waren damit wieder vereint. Und das Konzert selbst? Das gehört zu den wenigen Ereignissen, von denen es kein Tondokument gibt.