Hier herrscht noch der Charme der fünfziger Jahre. Betritt man den großzügigen Eingangsbereich der Konzerthalle, fällt die elegant schwingende Freitreppe ins Auge. Auch die traubenförmig angeordneten Deckenlampen des Bauhaus-Designers Wilhelm Wagenfeld sind ein repräsentativer Blickfang. Bei Tageslicht beschränken sie sich allerdings auf eine rein dekorative Funktion, denn die dreiseitige Verglasung macht das Foyer hell.
Die Stirnfront ist mit einem Gipsfries verziert, das metaphorisch auf die musikalische Bedeutung des Gebäudes weist: Es illustriert die Sage um Orpheus, den berühmtesten Sänger der Antike.
Der Saal selbst wurde nach dem Leitmuster der „Bühne im Raum“ geschaffen: Podium und Zuschauerbereich bilden eine Einheit, die Täfelung erstreckt sich über die gesamte Länge und hebt optisch die Trennung zwischen Rampe und Auditorium auf. Wilhelm Schäfer hat dieses architektonische Juwel der Nachkriegsmoderne konzipiert, nachdem für den Rathausanbau in der dritten Projektphase beschlossen worden war, ein Quergebäude mit einem Kulturzentrum für 800 Besucher zu schaffen.
Die kühne Deckenkonstruktion war seinerzeit ein technisches Novum. Sie wurde errichtet, um darüber noch einen viergeschossigen Verwaltungstrakt für das Bezirksamt zu ermöglichen. Zugleich bietet der Luftraum zwischen Spannbetondecke und den frei schwebenden Scheiben der eigentlichen Saaldecke akustische Vorteile. Auch der eiförmige Grundriss ist Resonanzbedürfnissen geschuldet. „Auf der Bühne klingt es nicht so gut“, beschreibt Mireya Salinas die Hörsituation, „aber auf den Sitzplätzen mischt es sich wunderbar.“
Die Musikagentin betreibt in Kooperation mit der Abteilung Schule, Bildung und Kultur des Bezirks nunmehr in der sechsten Spielzeit die verdienstvolle Reihe „Reinickendorf Classics“. Dabei steht meist Kammermusik auf dem Programm. Denn Staffelung und Schrägneigung der Wände bieten zwar eine gute Reflexion, aber die eher geringe Höhe lässt es an Volumen für Auftritte von großen Chören oder Orchestern fehlen. Die Raumakustik ist ein Kompromiss, denn für den Neubau, der 1957 mit dem Berliner Philharmonischen Orchester eröffnet wurde, war von vornherein eine Mehrzwecknutzung geplant. Außer Konzerten sollten hier Theatervorstellungen und Shows, Kinovorführungen und Lichtbildvorträge stattfinden, ebenso Sitzungen und Versammlungen.
Ernst Reuter, „der nicht nur dem neuen Berlin den Grundstein gelegt hat, sondern auch den Grundstein für dieses unser neues Rathaus gelegt hat“, wie der damalige Bürgermeister betonte, wurde nach seinem Tod zum Namenspatron der Veranstaltungsstätte und stand für die Absicht, „dass der kulturelle Wellenschlag unserer Stadt“ endlich bis in den Außenbezirk drang. Ausdrücklich sollte „der neue Kristallisationspunkt“ von Bildung, Wissenschaft und Künsten auch den Nachbarn aus Pankow und Weißensee offen stehen und nicht nur ein Ort der Begegnung zwischen Akteuren und Publikum, sondern auch zwischen Ost und West werden. Neben den von der ehrenamtlichen Seniorenkulturinitiative Reinickendorf initiierten Nachmittagen der leichten Muse prägen heute die Konzerte der Salinas Musik GmbH die Ausstrahlung des Hauses.
Für jede Saison gibt es ein übergreifendes Thema, in diesem Jahr sind es „Mythen & Märchen“. „Zeitgenössisches machen wir allerdings nicht mehr so viel“, sagt Mireya Salinas. „Die Leute waren schon bei Hindemith erbost. Aber mindestens eine Provokation leisten wir uns pro Serie.“ Das regionale Publikum ist traditionell eingestellt, wenn auch mit Wunsch nach mehr Flexibilität. So ist inzwischen aus dem Abonnement- ein Bonussystem geworden, das den Kartenkäufern mehr Wahl lässt und sie dennoch bindet.