Introduktion. Im Musikleben des 19. Jahrhunderts fallen einige Namen auf, die als Knotenpunkte in einem Netzwerk fungierten. Jeder Musiker von Rang kam irgendwann mit wenigstens einem dieser Namen in Kontakt: Carl Maria von Weber, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Franz Liszt, Joseph Joachim, Hans von Bülow.
Thema. Wenn wir uns Mendelssohn zuwenden, stellen wir fest: Er war mit allen anderen Namen vernetzt. Als Elfjähriger erlebte er in Berlin die Premiere von Webers „Freischütz“, er dirigierte die Uraufführungen von Schumanns 1. und 2. Sinfonie, er traf Liszt in Paris, er begleitete den Aufstieg des jungen Joachim – Schüler „seines“ Gewandhauskonzertmeisters Ferdinand David; der neunjährige Bülow erlebte in Leipzig die ihm unvergeßliche Uraufführung der Großen C-Dur Sinfonie von Schubert unter Mendelssohns Leitung.
Variations. Als Zwanzigjähriger setzte Mendelssohn Bach den Komponisten seines Jahrhunderts zum Maßstab, indem er die „Matthäus-Passion“ hundert Jahre nach ihrer Uraufführung wiedererweckte – Brahms und Wagner sind ohne diese Bach-Renaissance nicht denkbar. Das Gewandhausorchester erzog er zu einem erstklassigen Klangkörper – nicht zuletzt mittels seiner eigenen Werke: „Ein Sommernachtstraum“, „Die Hebriden“, „Schottische Sinfonie“, Violinkonzert in e-Moll. Er war der erste Dirigent, der mit dem Rücken zum Publikum sich frontal dem Orchester zuwandte; er war auch der erste, der sich intensiv für bessere Bezahlung und soziale Absicherung seiner Musiker einsetzte – sind sich die heutigen Musikerinnen und Musiker eigentlich dessen bewusst? Die Deutsche Orchestervereinigung sollte vielleicht einen Mendelssohn-Preis für künstlerisch-soziale Vorbildlichkeit ausloben … Ob er die berühmteste Pianistin ihrer Generation ehren wollte, ob er sie als emanzipierte Frau anerkennen, sie als Leipzigerin von den stolzen Leipzigerinnen und Leipzigern feiern lassen und dabei ihre wachsende Familie wirtschaftlich fördern wollte – wahrscheinlich trifft alles zu: Während seiner Zeit als Leiter der Gewandhauskonzerte ließ er Clara Schumann vierundzwanzig Mal auftreten! In der weltoffenen Messestadt Leipzig gründete Mendelssohn die erste Musik(hoch)schule in deutschen Landen – nach der Schändung des Mendelssohn-Denkmals im Nationalsozialismus trägt sie heute wieder seinen Namen.
Sérieuses. Die Geschichte dieses Namens spiegelt die deutsch-jüdische Geschichte. Der Großvater wuchs auf als Maische (Moses) mi (aus) Dessau. Als er sich im preußischen Berlin zu einem bedeutenden Philosophen emanzipierte, nannte er sich Sohn des Mendel: Moses Mendelssohn. Sein Sohn Abraham, Bankier erst in Hamburg, dann in Berlin, trat 1822 wohlüberlegt zum Christentum über, zum Zeichen dafür nahm er von seinem Schwager den zweiten Nachnamen Bartholdy an. Felix war damals zwölf Jahre alt, von ihm erwartete sein Vater, daß er sich später Felix M. Bartholdy nenne, bei seinen Kindern sollte er dann das „M.“ ganz weglassen. Aber Felix weigerte sich: Er war zwar getauft, komponierte evangelische Kirchenmusik wie die Reformationssinfonie, aber er empfand sich jüdisch verwurzelt. Dass er es war, ließ man ihn fühlen: Trotz seines Welterfolges mit der „Matthäus-Passion“ konnte er in Berlin nicht Leiter der Singakademie werden.
Als Coda eine persönliche Anekdote: Im Nationalsozialismus wurde eine junge Breslauer Pianistin von pfiffigen Musikredakteuren gefragt, ob sie den Mut hätte, im Berliner Rundfunk (Masurenallee 8–14) für Direktübertragungen Mendelssohn zu spielen, wenn der Name des Komponisten nicht genannt würde. Sie hatte den Mut – „aber bitte nicht die populären Lieder ohne Worte, sondern die Variations sérieuses und die Präludien und Fugen“. Vor der Sendung wurde angekündigt: „Und nun spielt für Sie Adelheid Zur“, danach wurde abgekündigt: „Sie hörten Klaviermusik von Herrn Bartholdy“.
Abrahams Wunsch nach der Eliminierung des „M.“ war in Erfüllung gegangen, wenn auch unter sehr anderen, bitteren Vorzeichen. Ich bin stolz auf den Mut meiner nachmaligen Mutter – ob ich damals ihren Mut gehabt hätte? Nicht nur der Familienname Mendelssohn, auch der Vorname Felix und der Werktitel „Variations sérieuses“ waren ausgelöscht worden – übrig blieben nur sehnsuchtsvolle Klänge … Felix Mendelssohn Bartholdy schrieb die „Variations sérieuses“ zugunsten des Beethoven-Denkmals in Bonn. Er hat sich nicht nur damit um das Musikleben verdient gemacht, er ist seiner Zeit und uns als einer der führenden romantischen Komponisten nichts schuldig geblieben. Wir schulden ihm, dass wir seine Werke angemessen aufführen: dankbar, liebevoll, professionell – und ohne die Hektik, die sein rastloses, kurzes Leben begleitete, damit diese herrliche Musik die Flügel ihrer Seele ausspannen kann, „als flöge sie nach Haus“ …