Ich liebe immer, jeden Tag, vom Morgen bis zum Abend, liebe ich Musik“, so em-pfängt der estnische Dirigent den Leser seiner Homepage im Internet. Gibt es Musik, die ihm besonders ans Herz gewachsen ist? Liegt etwas „Missionarisches“ in seiner Natur? 400 CDs hat er aufgenommen und Werke von Komponisten vorgestellt, die international wenig bekannt sind, darunter Wilhelm Stenhammer, Hugo Alfvén, Franz Schmidt, Bohuslav Martin°u und Eduard Tubin. Unbändige Entdeckerfreude treibt den estnischen Dirigenten an.
Am 7. Juni 1937 ist Neeme Järvi in Tallin geboren und hat an der heimatlichen Musikschule Schlagzeug und Chorleitung studiert. Von 1955 bis 1960 war er am Konservatorium in Leningrad in den Dirigentenklassen von Nikolaj Rabinowitsch und Jewgeni Mrawinski. Nach dieser ausgezeichneten Ausbildung ging er nach Estland zurück und übernahm dort 1963 die Leitung des estnischen Radio-Symphonieorchesters. Gleichzeitig wurde er Chefdirigent des estnischen Staatsopernorchesters und 1976 Chefdirigent des Staatlichen Symphonie-Orchesters Estland. Abgeschottet von der westlichen Welt war er nicht. Seitdem er 1971 den internationalen Dirigierwettbewerb in Rom gewonnen hatte, waren die Konzertagenten der Welt auf ihn aufmerksam ge-worden.
Die Leningrader Sinfoniker luden ihn ein, ihre Tournee durch Amerika zu leiten, Neeme Järvi gastierte bei großen Orchestern in Westeuropa, Nord- und Mittelamerika und in Japan. Die Opernhäuser in Buenos Aires und in Rio de Janeiro und die New Yorker Met luden ihn ein. Doch als er 1980 in seiner Heimat Musik von Arvo Pärt aufs Programm setzte, schützte ihn der internationale Ruhm nicht. Er wurde entlassen und emigrierte mit seiner Familie in die USA, nach New Jersey. Man verbreitete das Gerücht, Neeme Järvi müsse sich als Straßenmusikant durchschlagen. Tatsächlich sprang er in New York für den erkrankten Bernhard Haitink als Dirigent der New Yorker Philharmoniker ein und konnte sich unter zahlreichen Angeboten aussuchen, wohin er als Dirigent gehen wollte. Er entschied sich für Göteborg. 22 Jahre lang sollte er als Chefdirigent die Göteborger Symphoniker leiten, seither ist er ihr Ehrengastdirigent. Seine beiden Söhne Paavo (geb. 1962) und Kristjan Järvi (geb. 1972) sind inzwischen selbst erfolgreiche Dirigenten, die Tochter Maarika ist Flötistin.
Neeme Järvi übernahm die Leitung des Royal Scottish National Orchestra, der Sinfonieorchester von Detroit, New Jersey und Den Haag. 2010 ging er nach Estland zurück, um dort das Sinfonieorchester von Estland zu übernehmen, trat kurz darauf zurück, weil die Subventionen gekürzt wurden, blieb aber künstlerischer Leiter. Seit 2012 ist er außerdem Chefdirigent des Orchestre de la Suisse Romande. Während Claus Spahn im Januar 1995 schrieb „Järvi ist ein eher besonnener Charakter, taugt nicht zur eitlen Selbstdarstellung“, liest man Ende März 2012 nach einem Konzert mit dem Sinfonieorchester von Detroit „Järvi is the Uncle Fun of the classical music world“, der „Spaßonkel der klassischen Musik“. Von Aino Siebert erfährt man nach einem Konzert im Februar 2011 in Baden-Baden über die Wirkung des Dirigenten: „Seinen individuellen (tänzerischen) Stil und sein Begeisterungsvermögen hat Neeme Järvi nicht verloren. Wie er selbst sagt: “Ich schwimme jeden Tag in der Musik”. Das Musikgenie aus Estland ist wie ein alter Wein, der mit den Jahren besser, reifer geworden ist, und doch dabei frischen Geschmack beibehalten hat.