„Pippi Langstrumpf der Oper“ wird sie manchmal liebevoll genannt, wegen ihrer roten Haare („die sind echt“), der Sommersprossen und ihres Talents zur Komik. „Ah, non“, lacht Patricia Petibon, wenn sie dies hört – wenngleich ihr Pippi Langstrumpfs Devise „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt …“ sehr sympathisch ist. Aber das geht leider nur selten, weiß die Koloratursopranistin und alleinerziehende Mutter eines Jungen. Schließlich sei ihr Leben allzu sehr geprägt von Terminen und der Disziplin, die die Kunst und der Musikbetrieb einem Interpreten auferlegt. Ihr Repertoire allerdings lässt sie sich nicht vorschreiben. Mal ist sie Alban Bergs begehrenswerte, einsame Sexgöttin Lulu, mal die von Lebensangst gequälte Blanche in Poulencs Les Dialogues des Carmélites; mal eine rasende Königin der Nacht, dann wieder die schottische Königstochter Ginevra in Händels Ariodante. Und jüngst in München die Gilda in Rigoletto.
Auf den Spuren von Marc Chagall: Von der Malerei zum Gesang
Egal ob romantisch, modern oder französischer Barock: Petibon will mehr, als nur „nett und gut rüberzukommen“, schließlich gehe es um wesentlich mehr als noble Schönheit, brillante Technik oder magische Virtuosität. Es geht um etwas „Fremdes, Geheimnisvolles“, wie sie sagt, um ungeahnte, zuweilen drastische Einblicke in die Seele, der gesamte seelische Mikrokosmos – zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Wahrhaftige (Seelen-)Gemälde möchte sie erschaffen und feinste Nuancen, Zwischentöne und Farben dafür finden, wie einst der Bruder ihrer Urgroßmutter, der mit Marc Chagall das berühmte Deckengemälde in der Pariser Opéra Garnier malte. Schließlich, sagt Patricia Petibon, die lange selbst auch gemalt hat, sei Musik ja nicht nur der Klang, sondern auch eine Vision. „Wenn man Musik hört, sieht man auch etwas.“ Doch anders als ein Pinsel, der fest in der Hand liege, empfinde sie ihre feine, sehr schlanke Stimme oftmals als „ein kapriziöses Medium … mal fest, mal flüssig“. Abhängig mitunter auch von ihrer seelischen oder physischen Befindlichkeit. Das Publikum aber wird dies niemals bemerken und hat es bisher auch nicht. Es feiert sie auf sämtlichen Bühnen der Welt, sei es in Genf, Salzburg oder Barcelona, in München, New York oder an der Wiener Staatsoper.
3, 2, 1 … eine Kosmonautin mit Spätstart
Tierärztin oder Kosmonautin wollte das junge Mädchen mit den italienischen Wurzeln, das in Montargis südlich von Paris aufwuchs, einst werden. Und „zum Mond fliegen“. Sie landete in der Oper, die ihr oft „wie ein einziger Weltraum“, vorkommt, „völlig in sich und abgesondert von der normalen Welt“. Die ideale Welt für Patricia Petibon, die schon immer ein Faible für Fantasie- und Zauberwelten hatte. Als Kind liebte sie es, sich zu verkleiden und „neu zu erfinden“. Ihre Stimme entdeckte sie bereits mit 18 Jahren, und dennoch folgte die Gesangsausbildung am Pariser Konservatorium erst viele Jahre später; da war sie schon 35 Jahre alt. Dazwischen studierte sie – ungewöhnlich für ein Gesangstalent – Musikwissenschaft: „Ich habe die Theorie nie als Hindernis für die Interpretation gesehen; es ist wichtig, dass man den Hintergrund der Stücke kennt, die man singt. Erst danach kommt die Interpretation und damit die Freiheit.“ William Christie entdeckte sie 1995 und förderte sie, ebenso wie Nikolaus Harnoncourt: „Alice, seine Frau, hatte mich im Fernsehen gesehen und ihren Mann auf mich aufmerksam gemacht. Mit ihm zu arbeiten ist herrlich: Wir verstehen uns ohne viele Worte.“