Viele Konzertgänger kennen ihn nur als Bearbeiter von Werken Johann Sebastian Bachs. Mancher wird nicht einmal wissen, dass die zweite Hälfte des Kürzels Bach-Busoni mit Vornamen Ferruccio hieß. Dabei war der Deutsch-Italiener, der einen großen Teil seines Lebens in Berlin verbrachte, eine der interessantesten Musikerpersönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts: als Pianist und Komponist, als Denker und Lehrer.
Nach übereinstimmender Meinung aller Zeitgenossen war er eine faszinierende Persönlichkeit, ein gut aussehender Mann, in dem sich romanisches Stilgefühl mit deutscher Gedanklichkeit paarte. Und ein „homme de lettres“, der Tausende von wohl formulierten Briefen verfasste – davon allein 800 an seine Frau Gerda. Er galt als ein umfassend gebildeter Gesprächspartner, der persönliche Bekanntschaft zu Stefan Zweig und Franz Werfel, George Bernard Shaw und dem Futuristen Marinetti, zu Gabriele d’Annunzio wie zu Else Lasker-Schüler pflegte. „Als ich Busoni zum erstenmal begegnete“, erinnert sich 1925 der Freund und Dichterkollege Jakob Wassermann, „stand er im Alter von achtunddreißig Jahren: ein Mann von erstaunlicher Schönheit, sehr gepflegt, sehr verwöhnt, emporgehoben durch den Beifall der Welt… voller Kraft, voller Nerv, voller Intensität, voll geistiger Leidenschaft.“
Doch geht man in Berlins Bayerischem Viertel auf die Suche nach dem Haus, in dem Ferruccio Busoni von 1909 bis 1924 – mit der Kriegsunterbrechung 1915 bis 1920 – gelebt und mächtig gewirkt hat, macht man eine ernüchternde Entdeckung. Umgeben von herrschaftlichen Häusern aus der Jugendstilzeit, erinnert am Haus Viktoria-Luise-Platz 11 nur eine Gedenkplakette an den prominenten Bewohner: „Hier wohnte bis zu seinem Tode / Ferruccio Busoni / Musiker – Denker – Lehrer / 1866 – 1924 / Die Società Dante Alighieri Comitato di Berlino anlässlich des 100. Geburtstages des Künstlers“. Das Gebäude selbst ist nüchternster 1970er-Jahre-Stil – ohne jede Spur von der geistvollen Präsenz seines Bewohners im geliebten Berlin der Vor- und Nachkriegszeit, jener Periode des Auf- und Umbruchs, die in den Jahren vor 1914 ebenso markante Akzente setzte wie in den unruhigen 20er Jahren.
Musiker – Denker – Lehrer: Wer war dieser Ferruccio Busoni? Heutzutage fällt es schwerer denn je, seine Persönlichkeit scharf zu umreißen. Dass er als Sohn eines Italieners und einer Deutschen im damals österreichischen Triest aufwuchs, dass er zeitweilig in Paris, Helsingfors – dem heutigen Helsinki – und Moskau lebte und fünf Sprachen fließend sprach, dass er auch in Kriegszeiten mit nationalistischen Räsonnements nichts anfangen konnte – das macht ihn eigentlich zu einer Idealgestalt des Europäers – auch und gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Doch wer hebt ihn auf den europäischen Sockel?!
Busoni selbst hat sich Zeit seines Lebens in einem Zwiespalt gesehen. Allem pianistischen Ruhm zum Trotz: Seine eigentliche Bestimmung fühlte er im Komponistendasein; die nachträgliche Lobpreisung an seinem Geburtshaus im toskanischen Empoli als „Fürst der Pianisten“ hätte ihm wenig behagt, wie ihn auch die Huldigungen des Konzertpublikums bisweilen anwiderten. Die Tätigkeit des Pianisten sah er als eine nachschöpferische an; dagegen bedeuteten Bearbeitungen für ihn eine natürliche Ergänzung und Erweiterung des Werkes und standen gleichrangig zwischen originaler Komposition und Interpretation.
Als Pianist setzt sich Busoni ganz eigene Maßstäbe: Er verehrte Mozart und Beethoven zutiefst, er spielte Mendelssohn, Brahms und Anton Rubinstein, von den Franzosen Alkan und Franck, er widmete sich mit ganzer Hingabe dem Oeuvre Chopins und Liszts. Dagegen taucht Franz Schubert bei ihm nicht auf, und über Robert Schumann äußerte er sich in einem Brief an seinen Schüler Egon Petri in bissigster Manier: „Dieser protestantische Pfarrer! Dieser melancholische Samstag-Abend-Beischläfer! Sonntags-Nachmittags-Hausmusik-Macher! Stumpf- und eigensinniger Rhythmiker!“
Kaum nachvollziehbar ist das Fehlen zeitgenössischer Klaviermusik in seinen Konzert-Programmen. Weder Richard Strauss’ Burleske noch Max Regers Klavierkonzert wurde von ihm angerührt, kein Debussy und Ravel, kein Skriabin, kein Berg oder Schönberg. Gründe dafür hat Busoni nicht genannt; schließlich schätzte er Richard Strauss als Künstler ebenso wie Max Reger, und Schönbergs Pierrot Lunaire wurde erstmals 1913 in Busonis Wohnung am Viktoria-Luise-Platz im Beisein von viel Prominenz aufgeführt. Stattdessen immer wieder Beethovens späte Sonaten – kombiniert beispielsweise mit Bachs Goldberg-Variationen.
Wenn sich der Blick des Interpreten Busoni eher der Vergangenheit zuwandte: Warum nahm er andererseits große Mühen (und Kosten in Höhe von insgesamt 20.000 Mark) auf sich, um in den Jahren 1902 bis 1909 in zwölf „Berliner Orchesterabenden“ unter Mitwirkung der Berliner Philharmoniker dem Publikum Novitäten zeitgenössischer Komponisten jenseits der neudeutschen Schule vorzustellen? Das Panorama hätte europäischer nicht sein können: Edward Elgar und Frederick Delius waren hier ebenso vertreten wie die Skandinavier Christian Sinding, Carl Nielsen und Jean Sibelius (der Freund aus alten Helsingfors-Tagen), Claude Debussy und sogar Béla Bartók – neben vielen heute längst vergessenen Komponisten. Die Zahlen sprechen für den Wagemut Busonis: Von insgesamt 57 Werken waren 15 Uraufführungen und 23 deutsche Erstaufführungen. Der Kritik missfiel dagegen, dass deutsche Komponisten nur sehr spärlich vertreten waren, und Busonis Fazit klang einigermaßen resigniert: Seine „Art Experimentierbühne“ sei leider gänzlich missverstanden worden.
Als eine „Art Experimentierbühne“ muss wohl auch sein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst angesehen werden. Der Inhalt dieses schmalen Bändchens, 1907 entstanden, aber in Deutschland erst 1916 vom Insel-Verlag herausgebracht, gibt erneut Anlass zur Irritation. Was Busoni hier propagiert, weist weit in die Zukunft – und ist von ihm selbst in seinen Kompositionen auch nicht annähernd versucht oder realisiert worden. Die Verwirklichung der beschriebenen musikalischen Utopien blieb den Schülern Busonis überlassen, die sich mehr oder weniger locker, aber doch voll Bewunderung zum Unterricht um ihn scharten und mit einer Mischung aus humanistischer Freundlichkeit und idealistischer Strenge angeleitet wurden. Man staunt über das Spektrum dieser Schülerschar: Edgard Varèse und Arthur Lourié, der Vierteltöner Alois Hába und Ernst Krenek, außerdem der Deutsch-Russe Wladimir Vogel, der Deutsch-Spanier Philipp Jarnach und sogar Kurt Weill. Dogmatik war nicht in Busonis Sinne, wenn er unterrichtete, geistige Freiheit und schöpferische Nachdenklichkeit gingen ihm über alles. So gerieten mit den Schülern unweigerlich auch die Leistungen des Lehrers Busoni in Vergessenheit.
So gut wie alle Arbeiten der reifen Jahre – auch die Nocturne symphonique von 1913 – stehen in einer Verbindung zu seinem opus summum, der Oper Doktor Faust, die ihn seit 1916 intensiv beschäftigte und dennoch unvollendet blieb. Sie trägt schwer an der Fülle von Gedanken und Philosophie und an den Prologen, die allzu lange von der Haupthandlung ablenken, während die Musik Quint- und Quartklänge, Polytonalität und Variationstechniken mit Menuett, Walzer und Choral vereint. 1925 in Dresden unter Fritz Busch uraufgeführt, dirigierte Leo Blech die Oper schon 1927 an der Berliner Staatsoper. 1954 sang der 29-jährige Dietrich Fischer-Dieskau den Denker und Grübler erstmals an der Städtischen Oper in Charlottenburg. 2006 schließlich stellte Daniel Barenboim, der 1992 schon Busonis E. T. A. Hoffmann-Oper Die Brautwahl wieder an die Staatsoper geholt hatte, den Doktor Faust erneut zur Diskussion – mit durchaus positiver Resonanz.
Doch auch das dürfte wenig zu einer Popularisierung Ferruccio Busonis beitragen. Begraben liegt er auf dem Friedhof in der Friedenauer Stubenrauchstraße. Touristen, die dorthin kommen, pflegen zumeist achtlos an dem von Georg Kolbe gestalteten Gedenkstein vorbeizugehen – auf der Suche nach einem prominenteren Ehrengrab. Denn auch Marlene Dietrich hat hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.