Um gemeinsam das Mysterium des kreativen Moments zu entschlüsseln, gebe es eine Brücke, über die er mit seinen musikalischen Partnern gern mit hellwach geöffneten Ohren spaziere, sagt Ralf Gothóni. Diesen Übergang zu Fantasie und innerem Reichtum, zu instrumentalem Können und Virtuosität hat der finnische Pianist, Dirigent, Komponist und Hochschullehrer in einer Haltung entdeckt, die alle Wände zwischen den Musikern aufhebe und gegenseitiges Vertrauen stifte: Die Rede ist von der Kammermusik. Dieses Verständnis des musikalischen Miteinanders habe nicht nur in kleinen Ensembles zu gelten. Selbst wenn Gothóni groß besetzte Klangkörper leitet, will er keine über den Dingen stehende Autorität sein, sondern ein Kammermusik-Partner, der seine Kolleginnen und Kollegen durch die unerhörte Menge an Informationen führt, die ein Haydn, Mozart oder Brahms so aufschrieb. „Was zwischen den Tönen passiert, ist viel wichtiger als die Töne selbst“, sagt Gothóni, der Musik als die Kunst feinster Beziehungen begreift und über die genannten großen Meister der Sinfonie sagt, sie seien im Grunde nichts als Kammermusiker.
Dass der Pianist und langjährige Leiter des English Chamber Orchestra immer wieder gern mit der Hamburger Camerata musiziert und nun sogar die Jubiläums-Saison zum 25. Geburtstag von Hamburgs ältestem Kammerorchester mit einem „Fanfare“ überschriebenen Festkonzert eröffnet, liegt darin begründet, dass die Camerata ein „so großes und ausgeprägtes Interesse am gemeinsamen Musizieren“ habe. Gothóni sagt: „Sie wollen spielen, und sie wollen üben!“ Dieses Selbstverständnis habe dem Orchester in den vergangenen Jahren einen deutlichen Qualitätsschub gebracht.
Einen Schlüssel dazu sieht er in der kammerorchestralen Besetzung der Camerata: „Je größer das Orchester, desto größer auch der organisatorische Aufwand, der von der Musik wegführt.“ Hin zur Musik führt Gothóni nicht zuletzt dadurch, dass er seine Orchester besonders gern vom Flügel aus leitet. „So achten meine Kolleginnen und Kollegen mit den Ohren statt mit den Augen aufeinander und müssen nicht den komplizierten und fehleranfälligen Prozess eines Abgleichs zwischen auditiver und visueller Information durchlaufen.“
Der von ihm beschworene „kreative Moment“ könne dann als spannungsvoller musikalischer Dualismus zwischen Kontrolle und Spontaneität, zwischen Bewusstheit und Unbewusstem erlebbar gemacht werden: „Ich versuche bewusst mit dem Unbewussten zu arbeiten“, spitzt Gothóni seine These zu. Wer im Orchester auf diesem Wege wechselseitige Neugierde entwickle, könne erst so die vielgestaltigen Informationen der Musik entschlüsseln und dem Publikum zu verstehen geben. Um Hörfähigkeit und die Schulung von Aufmerksamkeit geht es Ralf Gothóni nicht zuletzt mit Blick auf die Besucher seiner Konzerte. Die Pop-Musik habe schließlich viele Menschen manipuliert: „Alles muss heute groß und laut sein.“ Dagegen die Aufmerksamkeit wieder auf poetische Details und leise Töne zu lenken, sei eine große Aufgabe und Verantwortung: „Wir versuchen das Äußerste!“ So auch am 21. September, wenn europäische auf transatlantische Musik trifft und Gothóni Haydns Sinfonie Nr. 100 sowie, natürlich vom Flügel aus, das Tirol Concerto des Minimalisten Philip Glass leiten wird.