Ray Chen gibt offen zu, dass der Begriff für manche Musikfreunde einen negativen Beiklang haben mag: „Virtuoso“ prangt in großen roten Lettern auf seiner ersten CD, deren Programm er 2011 auf einer großen Tour durch die europäischen Musikstädte präsentierte: „Für manche Leute ist ein Virtuose so ein Showman, der einfach nur brillant spielt. Es geht aber zugleich darum, die Tiefe der Musik zu erspüren. Überhaupt ist ein Titel nicht mehr als ein Titel. Die Musik ist das, was mich wirklich interessiert.“ Und durch sie könne man ihn ganz persönlich kennen lernen. „Sie repräsentiert, wer ich bin.“
Wer die Aufnahme hört, wird in ihm einen jugendlichen Romantiker erkennen. Sein edel empfindsamer Ton berührt unmittelbar, wirkt vibratosatt geerdet. Und mit dem gewählten Repertoire zeigt der Geiger mit der imposanten Blitzkarriere viele Facetten seines Könnens. Mit den Werken von Bach, Tartini, Franck und Wieniawski deckt er schließlich drei Jahrhunderte Violinliteratur ab.
Schon die Prüfer seines Abschlusskonzerts hat er damit begeistert, als er sein Studium am berühmten Curtis Institute im amerikanischen Philadelphia abschloss. Sein Lehrer dort war der inzwischen sehr betagte Aaron Rosand, den er auch heute noch gelegentlich konsultiert. Neue Werke erarbeitet Chen aber längst ohne fremde Unterstützung: „Ich lerne unabhängig zu werden, meiner eigenen geigerischen Intuition zu folgen, ein enges Verhältnis zu meinem Instrument zu entwickeln und so meinen eigenen Klang zu finden.“ Denn es gebe nun wirklich keine Entschuldigung dafür, so zu klingen wie jemand anderes, sagt Chen, Jahrgang 1989, lachend. Ein warmer Klang, der die Herzen der Menschen zum Schmelzen bringt, sei sein Ideal.
Wer sich ein Bild von Ray Chen machen will, sollte auf seine kulturellen Wurzeln achten. Geboren in Taiwan, wuchs er in Australien auf, um dann in den USA zu studieren. Von den Asiaten habe er die Philosophie des harten Arbeitens übernommen; die westliche Einstellung, das Leben zu genießen und sich schon mal zurückzulehnen, habe ihn indes nicht minder geprägt. Seine Zeit in Amerika habe ihn dann gelehrt, dass man sich nicht scheuen müsse, den Anspruch zu erheben, der Beste seines Fachs zu werden. „Individueller Erfolg ist keine Schande, sondern macht Spaß.“
Kaum zufällig haben ihn immer wieder wichtige Wettbewerbe nach vorn gebracht: Zuletzt gewann er 2008 den Yehudi-Menuhin-Wettbewerb und ein Jahr darauf den Königin-Elisabeth-Wettbewerb. Der Newcomer reflektiert genau, dass ihn diese Erfolge ins Rampenlicht der Konzerthäuser und damit in den Musikmarkt hineingebracht haben. „Eine Karriere garantieren sie aber nicht.“ Seinen Kindheitstraum, „ein berühmter Geiger zu werden, der durch die Welt reist“, hat der Australier zwar schon ein Stück weit in die Realität umgesetzt. Und auch seine neue CD mit den Mendelssohn- und Tschaikowsky-Violinkonzerten dürfte ihn diesem Traum näher bringen. Doch natürlich formuliert er seine Ziele heute demütiger: Er will mit wacher Neugierde jeden Tag etwas dazulernen, möchte reifen und seine Verantwortung als Künstler wahrnehmen, den „Menschen Momente der Inspiration zu schenken“.