Nur ein Kammerchor? So werden im Jahr 1948 viele Westberliner Musikliebhaber gedacht haben, als sie erfuhren, dass der neue RIAS, der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, sich lediglich zur Gründung eines kleinen Radiochores hatte durchringen können. Während die westdeutschen Anstalten der ARD fast sämtlich große Chöre besaßen, gerade aufbauten oder, wie der große DDR-Rundfunkchor im Ostteil Berlins, aus der Vorkriegszeit übernahmen, sollten sich die Bewohner der „Frontstadt“ bei der Aufführung von Passionen und Oratorien mit einem kleinen Ensemble und dünnem Chorklang begnügen?
Das Klangideal für Alte Musik veränderte sich
Damals war das schlanke Klangideal der historischen Aufführungspraxis noch unbekannt, es herrschte die Sehnsucht nach Chören, die durch ihre schiere Klangmacht beeindrucken konnten. Doch diese Klangvorstellung begann sich in der Musikszene Ende der 1950er Jahre durch internationale Alte-Musik-Pioniere wie Nikolaus Harnoncourt zu ändern, man besann sich der Tatsache, dass die Vokalpolyphonie vom späten Mittelalter über die Renaissance bis zu Palestrina, Monteverdi und Bach ein feines, vielstimmiges Gewebe war, dessen einzelne Fäden sich erst im Ohr des Hörers zu einem Ganzen zusammensetzen sollten. Man hörte nun genauer auf die zierlichen Koloraturen in Händels Messias-Oratorium, auf das kleingliedrige, nach der barocken Affektenlehre konstruierte Wechselspiel von laut und leise, von lang und kurz in den Oratorien und Passionen Johann Sebastian Bachs – und plötzlich wurde die personelle Sparsamkeit des RIAS Kammerchors nicht mehr als Mangel empfunden.
Natürlich wurde auch dieser Radiochor zunächst vor allem für die Aufführungen von groß besetzten, chorsymphonischen Werken gebraucht, meist mit dem damaligen RSO, dem Radio-Symphonie-Orchester. Doch die ersten Leiter des Chores selbst, Herbert Froitzheim und Günther Arndt, machten bereits auf die Qualitäten ihres Chores außerhalb des großen Repertoires aufmerksam. Damals war auch der junge Westberliner Bariton Dietrich Fischer-Dieskau als Solist oft an den Konzerten und Aufnahmen des Chors beteiligt.
Auch Uraufführungen gehören zum Markenzeichen
Hans Christoph Rademann, derzeit Chefdirigent des RIAS Kammerchors, weist allerdings darauf hin, dass die Alte-Musik-Spezialität des Ensembles erst in den siebziger Jahren zu einem echten Markenzeichen wurde. Den „entscheidenden ästhetischen Richtungswechsel“, so Rademann, habe der Chorleiter Uwe Gronostay vollzogen. „Er hat den Chor klanglich zum Maßstab aller Dinge auf dem Kammerchorgebiet werden lassen. Diesem schlanken, transparenten Chorklang ist der RIAS Kammerchor immer treu geblieben, hat aber in den vergangenen Jahren noch an Rundheit des Klanges und Volumen gewonnen.“ Seit dieser Zeit bestritt der RIAS Kammerchor zahlreiche Gastspiele im In- und Ausland, machte sich mit Ur- und Erstaufführungen von Komponisten wie Mauricio Kagel, Milko Kelemen, Witold Lutosławski, Krzysztof Penderecki und Aribert Reimann einen Namen als kompetentes Ensemble für die Aufführung anspruchsvoller Gegenwartsmusik.
Der nächste, langjährige Chorleiter Marcus Creed verstand es , den durch die Arbeit an unbekanntem alten Repertoire erworbenen schlanken Chorklang auf romantische Musik von Schubert und Brahms zu übertragen und dem RIAS Kammerchor auch auf diesem Feld zu einem Alleinstellungsmerkmal zu verhelfen: große Chormusik in kammermusikalischer Filigranität.
Daniel Reuss und Hans Christoph Rademann, der folgende und der derzeitige Leiter der RIAS Kammerchors, wirkten weiter im Sinne einer Balance zwischen sehr alter und sehr neuer Chormusik. Hans Christoph Rademann, der sich in seiner Chorarbeit in Berlin unter anderem der Musik der weitverzweigten Familie Bach verschrieben hat, hebt die kommunikative Aktivität seines Chores im Augenblick der Aufführung hervor: „Der RIAS Kammerchor verfügt im Konzert über wahre musikalische Zauberkräfte. Es laufen unglaublich vielfältige Interaktionen ab, die es dem Dirigenten erlauben, frei zu gestalten. Diese Eigenschaft haben nur wenige Ensembles.“