Über mangelnde Anfragen aus den verschiedensten Teilen der Erde kann sich das Rotterdams Philharmonisch Orkest wahrlich nicht beklagen: In den vergangenen Jahren war es mit seinem Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin in Nordamerika und in Ostasien, gerade erst präsentierte es sich unter Leonard Slatkin als Rotterdams Botschafter bei den wichtigsten Handelspartnern in Argentinien und Brasilien. Im September nun steht eine ausgedehnte Deutschland-Tournee auf dem Programm, der Konzerte in Gent, Antwerpen und Prag vorausgehen. Am Pult: der 36-jährige Senkrechtstarter Yannick Nézet-Séguin.
Man muss es den Rotterdamern lassen: Sie haben in den letzten Jahrzehnten ein Gespür für publicity-trächtige Chefdirigenten entwickelt. Wie sonst auch sollten sie gegen die übermächtige Konkurrenz aus dem benachbarten Amsterdam punkten? Denn so wie das malerische Amsterdam als Touristenmagnet die vom Krieg schwer gezeichnete Handelsstadt Rotterdam klar in den Schatten stellt, so ist auch das ehrwürdige Koninklijk Concertgebouw Orkest unangefochten die Nummer 1 im Lande. Dennoch hat es das 1918 gegründete Rotterdams Philharmonisch längst geschafft, sich ebenfalls ein hervorragendes Renommee aufzubauen.
Dabei waren die Bedingungen nicht einfach. Im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs versank nicht nur der Konzertsaal des Orchesters in Schutt und Asche, sondern mit ihm auch der größte Teil der Instrumente und das Notenarchiv. Erst 1966 konnten die Musiker ihr neues Haus, das wieder den Namen De Doelen trägt und 2.300 Plätze fasst, beziehen. 1973 trat der junge Edo de Waart das Amt des Chefdirigenten an und mehrte mit vielen preisgekrönten Aufnahmen den internationalen Ruf des Orchesters. Ab 1979 folgten in kurzen Abständen David Zinman, James Conlon und Jeffrey Tate, bevor 1995 Valery Gergiev das Zepter übernahm. Mag das auch anfangs wie ein Stopover des omnipräsenten russischen Workaholics zwischen seinen damaligen Verpflichtungen in St. Petersburg und an der New Yorker Met gewirkt haben: Gergiev stürtzte sich wie überall voller Energie in seine Aufgabe, begeisterte mit seinem Charisma die Zuhörer – und dirigierte ein höchst abwechslungsreiches Repertoire mit Schwerpunkten bei Bruckner, Mahler und insbesondere der russischen Musik. Als Ehrendirigent bleibt Gergiev dem Orchester bis heute eng verbunden.
Neuer Chefdirigent seit 2008 ist der Franko-Kanadier Yannick Nézet-Séguin, der nach seinem Auftritt bei den Salzburger Festspielen 2008 mit Gounods Roméo et Juliette bei den namhaftesten Orchestern Europas und Nordamerikas debütierte und von der ZEIT 2010 als „Star der Stunde unter den jungen aufstrebenden Dirigenten“ gepriesen wurde. Im kommenden Jahr wird er überdies das Philadelphia Orchestra übernehmen. Drei thematische Schwerpunkte hat Nézet-Séguin für seine Arbeit in Rotterdam gesetzt: Beethoven, Richard Strauss und die französische Musik. Dass der neue Chef auch bei Probespielen neuer Orchestermusiker anwesend ist (Gergiev hatte nie die Zeit dafür), spricht mehr als manches andere für die künstlerische Seriosität dieses ungewöhnlichen Dirigenten.