Er ist der Mann mit den Zyklen. Von 1992 bis 1994 nahm Sir András Schiff sämtliche 21 Klaviersonaten von Franz Schubert auf, 1995 erschien seine Einspielung von Mozarts 18 Klaviersonaten und von 2004 bis 2007 spielte András Schiff die 32 Sonaten von Beethoven ein. Das könnte darüber hinwegtäuschen, dass sein Lieblingskomponist Johann Sebastian Bach ist, doch weite Teile von dessen Œuvre für Klavier solo hatte er bereits ab 1982 im Studio erarbeitet. Erstaunlicherweise kann der gebürtige Ungar mit der Musik seines Landsmanns Franz Liszt nicht viel anfangen. Das erklärt er mit Erfahrungen, die er während seines Studiums in Budapest gemacht hat: „An der Franz-Liszt-Musikhochschule tönte aus jedem Zimmer Liszt, meist sehr schlecht gespielt. Das ist nicht die Schuld von Liszt, ich sehe heute ein, was für wunderbare Werke er geschrieben hat. Aber eine tiefe Antipathie ist geblieben.“
Der Originaltext-Exeget
Seine Ausbildung bei György Kurtág liegt weit zurück, wie Monumente stehen seine Zyklen da, mit denen er auch weltweit auf Tournee gegangen ist. Als Analytiker hat er sich akribisch mit den Notentexten auseinandergesetzt, seine Interpretationen möglichst quellentreu gestaltet. Die Differenzen zu vertrauten Wiedergaben sind dabei frappant, beispielsweise wenn er streng nach Beethovens Angaben mit den Pedalen arbeitet. Indessen sind die so entstehenden Klangwelten keineswegs trocken und altbacken. Regelrechte Hörirritationen durchlebt man, wenn Passagen, die zunächst wie aus der Zeit gefallen wirken, plötzlich einen unverstellten Blick auf Kerngedanken eröffnen. Dann strahlt da unverhofft eine lebendige Frische auf, die einfach nur verblüfft.
Schiff ist sozusagen Originaltext-Exeget und außerdem stets auf der Suche nach dem richtigen Instrument. Die weltweite Steinway-Dominanz stört ihn. Ohnehin sind Technik und Tonfarbe moderner Konzertflügel weit entfernt von den Ausdrucksmöglichkeiten und Klangvorstellungen historischer Komponisten und Interpreten. Die heutige Konzertpraxis stellt er so nachdrücklich in Frage, dass er Beethovens „Diabelli-Variationen“ für ein Doppelalbum gleich zwei Mal aufgenommen hat, an einem Bechstein von 1921 und an einem Brodmann aus den 1820er Jahren. Dieses unmittelbare Nebeneinander ist sehr aufschlussreich.
Konfrontation mit der Heimat
Mit diesen Ansprüchen an sich selbst und andere geht Schiff ziemlich offen um. Immer wieder wurde seine liebenswürdig-fordernde Art beschrieben, mit der er auch seinen Kammermusikpartnern begegnet, beispielsweise seiner Frau, der Geigerin Yuuko Shiokawa, oder dem Cellisten Miklós Perényi. Klavierkonzerte dirigiert er gelegentlich auch vom Instrument aus wie die Bamberger Symphoniker im Mai 2017. Als Schiff 1999 in Salzburg die 27 Klavierkonzerte Mozarts aufführen wollte, gründete er kurzerhand ein eigenes Orchester. Mit der Cappella Andrea Barca ist er bis heute regelmäßig unterwegs. Auch die Arbeit mit Nachwuchstalenten ist ihm ein Anliegen, weshalb er an der bei Frankfurt gelegenen Kronberg Academy unterrichtet.
Abseits seiner künstlerischen Betätigung hat sich Schiff gelegentlich mit starken Meinungen hervorgetan. Beispielsweise schrieb er im Dezember 2014 in der Neuen Zürcher Zeitung, die Protagonisten des Regietheaters nähmen sich zu wichtig, entfernten sich zu weit von den Vorlagen. Eine vielbeachtete Stellungnahme, doch nicht so folgenreich wie seine Positionierung zu den Entwicklungen in seinem Heimatland. Den wachsenden Nationalismus und Antisemitismus in der ungarischen Bevölkerung beobachtet er schon lange mit Sorge. In einem gemeinsam mit Ádám Fischer verfassten, öffentlichen Brief rief er dazu auf, Europas moralische Grundwerte zu verteidigen. Die Rückmeldungen aus Ungarn fielen so heftig aus, dass er in der Folge bekanntgab, nicht mehr dort aufzutreten. Dabei ist es bis heute geblieben.
Die Schubertiade ohne András Schiff
Schon im Jahr 2000 hatte er seine Teilnahme an der Feldkircher Schubertiade abgesagt, um gegen die Beteiligung der rechten FPÖ an der Bundesregierung Österreichs zu protestieren. Es bleibt festzuhalten: Die Begegnung mit András Schiff ist nicht immer konfrontationsfrei. Aber gerade das macht diesen Künstler und Menschen so spannend.
Sehen Sie hier András Schiff mit Johann Sebastian Bachs „Das Wohltemperierte Klavier, Band 2“: