„Sie ist vom Stamm der Pioniere, der Bahnbrecher. Sie ist vorausgegangen und hat Bäume gefällt und Felsen gesprengt und Brücken gebaut und so den Weg bereitet für die, die nach ihr kommen“, sagt Virginia Woolf 1931 über Ethel Smyth. Die 1858 geborene englische Komponistin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, deren vielleicht bekanntestes Werk der „March of the Women“ der britischen Suffragetten ist, ist das glatte Gegenteil von dem, was man sich im viktorianischen Zeitalter unter einer anständigen Dame vorstellt: unangepasst, selbstbewusst, lesbisch, visionär.
Musikstudium dank Rede- und Hungerstreik
Schon früh zeigt sich ihr Temperament. Mit zwölf entscheidet sie, dass sie in Leipzig Musik studieren will, nachdem sie durch ihre deutsche Gouvernante mit Beethoven, Schubert und Schumann in Kontakt kommt. Ihrem Vater, einem lang gedienten Generalmajor, passt das freilich nicht. Er steckt das eigenwillige Mädchen ins Pensionat, aus dem es genauso unbeugsam zurückkommt. Ethel tritt in den Rede- und Hungerstreik. 1877 geben die Eltern nach, sie tritt ihre Ausbildung als erste Frau unter Carl Reinecke an – und wird enttäuscht. Nach nur einem Jahr verlässt sie das Leipziger Konservatorium und nimmt Stunden beim Präsidenten des Leipziger Bachvereins, Heinrich Aloysius von Herzogenberg.
Zudem nimmt Ethel Smyth aktiv am Kulturleben der Stadt teil, trifft auf Persönlichkeiten wie Clara Schumann, Anton Rubinstein, Edvard Grieg und Johannes Brahms – Letzterer war mit vielen Vorbehalten gegenüber komponierenden Frauen behaftet. „Plötzlich hatte er sich daran erinnert, dass ich ja eine Frau war, die ernstzunehmen unter der Würde eines Mannes war“, erzählt sie. „Die Qualität der Arbeit, die er, wäre ich ein Mann gewesen, gegen alles und jeden verteidigt hätte, vergaß er dabei einfach.“ Zu ihren Fürsprechern zählen dagegen George Bernard Shaw, Bruno Walter (der ihr eine „flammende Seele“ attestiert), Arthur Nikisch und Sir George Henschel, der ihre „meteorenhafte Erscheinung“ hervorhebt. „Wir wussten alle, dass wir unter uns eine außergewöhnlich dominierende Persönlichkeit hatten: Eine Frau, die sicherlich eines Tages berühmt sein würde“, betont der Dirigent rückblickend.
Komponierte sowohl Kammer- als auch Orchestermusik: Ethel Smyth
Smyths Oeuvre umfasst neben Kammer- und Orchestermusik sowie Chorwerken auch ihr „geistliches Meisterstück“, die Messe in D-Dur. Das 1893 in der Royal Albert Hall uraufgeführte Werk wird von der ehemaligen französischen Kaiserin Eugénie protegiert. Die Times schreibt: „Dieses Werk stellt die Komponistin eindeutig unter die bekanntesten Komponisten ihrer Zeit, und mit Leichtigkeit an die Spitze all derer, die ihrem Geschlecht angehören.“ Dazu kommen etliche Opern, darunter ihre größter Wurf „The Wreckers“ („Strandrecht“, UA 1906 in Leipzig), das für viele auf einer Stufe mit Brittens „Peter Grimes“ steht.
1922 wird sie zur „Dame of the British Empire“ geadelt. Trotz dieser Anerkennung und großer künstlerischer Erfolge weltweit bleibt es für Smyth zeitlebens ein Kampf, sich als Frau gegenüber ihren männlichen Kollegen, den Veranstaltern sowie dem Publikum zu behaupten. „Der genaue Wert meiner Musik wird wahrscheinlich erst dann erkannt werden, wenn nichts von mir übriggeblieben ist als geschlechtslose Punkte und Striche auf liniertem Papier“, schreibt sie einmal. Mit 86 Jahren stirbt Smyth 1944 im englischen Woking.
Hören Sie hier den „March of the Women“ von Ethel Smyth: