An der Wand in Kai-Uwe Jirkas bescheidenem Büro mit dem etwas überlebten Altwestberliner Charme hängt ein vergilbtes Blatt Papier. Nur ein Wort steht darauf. Güte. Man könnte es als beständige pä-d-agogische Mahnung verstehen oder als Qualitätsanspruch für seinen Chor. In der „Burg“, dem Domizil des Staats- und Domchores an der Universität der Künste in der Hardenbergstraße, gehört beides zum Alltag.
Seit zehn Jahren führt der Professor für Chorleitung die Geschicke der 300 Sänger, und man kann mit Fug und Recht sagen, dass er den einstmals renommierten Knabenchor im Zuge der Reorganisation nach der Wende wieder aus dem Tal relativer Bedeutungslosigkeit herausgeführt hat. Als Botschafter des „freien Berlins“ war der Chor im Dienste der Bundesrepublik in seinen besten Jahren rund um die halbe Welt gereist, bevor er sich nach 1990 in der völlig umgekrempelten Kulturlandschaft des wiedervereinten Berlins neu orientieren musste. Hatte er schon 1944 nach der Zerstörung des Doms in die Marienkirche umziehen müssen, siedelte er nach dem Mauerbau in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche über. Erst 1993 kehrte der Staats- und Domchor wieder an seine alte Wirkungsstätte zurück, wiewohl die Mehrzahl der Sänger noch heute aus den Westbezirken stammt und die Probenarbeit daher nach wie vor in der Hardenbergstraße stattfindet.
Notwendigerweise gibt es gegenüber der starken Knabenchorkonkurrenz in Deutschland Abstriche beim sängerischen Niveau: Nur dreimal die Woche wird geprobt, der Staats- und Domchor verfügt über kein Internat, und die Fluktuation der Schüler tut ein übriges, denn sie ziehen mit ihren Eltern mit, die in Berlin häufig nur gastweise arbeiten. So kommt es, dass sich nur etwa 40 bis 50 Jungen pro Jahr zum Vorsingen melden. Angesichts der Flut der Alternativangebote muss ein Knabe in Berlin wirklich in solch einem Chor singen wollen; höchstens jeder Fünfte macht nach dem Stimmbruch als Männerchorist weiter, für viele hat sich das Singen dann erledigt, obwohl sie die schöne Zeit im Chor nicht missen möchten.
„Wir vollführen hier einen Spagat zwischen Leistungsausbildung und Breitenausbildung“, sagt Kai-Uwe Jirka. Allgemein die Freude am Singen zu wecken wird in der „Burg“ mindestens ebenso geschätzt wie ein Trimmen auf Leistung. Dass sich die Ergebnisse trotzdem hören lassen können, beweisen schon die klugen Programme, die Jirka ansetzt: „Die großen Chorschinken überlassen wir gern denen, die darauf wirklich spezialisiert sind.“
Dem 41jährigen Chorleiter sind unbekannte Werke – möglichst mit Berlinbezug – wichtiger: „Ihre stellenweise Unvollkommenheit zeigt ja erst die Meisterschaft der großen Würfe.“ So belebt Jirka preußische Kleinmeister, kümmert sich um Agricola oder Hiller, nimmt weltliche Eccard-Gesänge auf, schickt seine Knaben aber auch zu Mahlers Achter mit Rattle in die Philharmonie. Die Mischung hebt das Repertoire deutlich von den auf geistliche Musik fokussierten Programmen der Konkurrenzensembles ab. So erarbeitet Kai-Uwe Jirka seinem Staats- und Domchor ein eigenes Profil: mit Witz und – Güte.