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Porträt Carsten-Stephan von Bothmer

„Jetzt ist genug mit lyrisch“

Der Pianist Carsten-Stephan Graf von Bothmer haucht alten Filmen neues Leben ein

vonKlemens Hippel,

Begonnen hat alles ganz zufällig. An der TU Berlin, wo er Mathematik studierte, fragte 1998 ein Kommilitone Carsten-Stephan Graf von Bothmer, ob er nicht im Filmclub Stummfilme begleiten wolle. Schließlich war Bothmer gleichzeitig an der UdK als Klavierstudent eingeschrieben. Bothmer sagte ja – unter der Bedingung, dass er einen richtigen Flügel bekäme und kein E-Piano. Und als das klappte und dem Publikum Bothmers Musik auch noch sehr gefiel, stand der neuen Karriere nichts mehr im Wege. Bothmer blieb dem Stummfilm auch über Staatsexamen und Klavier-Abschluss 2001 hinaus treu und machte sich einen Namen als Stummfilmpianist – nicht nur in Deutschland oder Italien. Bis auf die Philippinen und nach Kasachstan hat ihn seine Passion bereits geführt.

Die Originalmusiken, die für manche Stummfilme geschrieben wurden, spielen für seine Begleitung keine Rolle, ebenso wenig die Musik der Kinotheken, in denen zur Stummfilmzeit musikalische Versatzstücke für jeden Zweck gesammelt wurden und über die Bothmer seine Examensarbeit geschrieben hat. Er erfindet lieber seine eigene Musik: „Es macht Spaß, zu alten Filmen eine neue Musik zu machen. Dann kann ein Stummfilm moderner wirken als ein dreißig Jahre alter Tonfilm.“ Außerdem sei das auch schon damals üblich gewesen, erklärt der Pianist: „In jedem Kino hat man meist seine eigene Musik gemacht. Dass die Musik eines Films immer gleich bleibt, ist ein Irrtum des Tonfilms.“

Von dem unterscheidet sich die Stummfilmmusik auch noch in einer anderen wichtigen Hinsicht: „Nachfolger der Stummfilmmusik ist die gesamte Tonebene“, sagt Bothmer. „Die Klanglichkeit der Sprache, Musik, Geräusche und Atmosphäre.“ Im Tonfilm werde die Musik je nach Bedarf an- und abgeschaltet, im Stummfilm sei sie dagegen durchgehend: Wenn sich etwa in einer Situation Liebe in Streit verwandle, das eine aus dem anderen hervorgehe, finde dieser Wandel auch musikalisch statt.

Der Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Man denke etwa an Das Glasauge, einen Dokumentarfilm, den Dsiga Wertow 1928 drehte. Wenn da eine große Maschine im Bild erscheint, welche Musik erfindet man dazu? Eine „Maschinenmusik“? Vogelstimmen als Symbol für die verdrängte Natur? Soll die Musik einen sich angesichts der Maschine klein fühlenden Zuschauer reflektieren? Will man heroische Klänge für den Stolz, solche Maschinen konstruieren zu können? Oder macht die Musik durch einen Marsch fühlbar, dass der menschliche Größenwahn, der solche Maschinen hervorbringt, der gleiche ist, der auch Kriege verursacht? Die einzige Vorgabe für den Pianisten: Er muss versuchen, dem gerecht zu werden, was der Film sagen will.

Auf bloße „Untermalung“ oder „Lautmalerei“ greift Bothmer nur selten zurück. Er versucht, das Publikum in den Film hineinzuziehen. „Nach fünf Minuten sollen sie drin sein“, sagt Bothmer, der keine museale Erfahrung bieten will, sondern Filmerleben, Emotionen. „Oh war das spannend“, ist die erwünschte Reaktion auch bei einem historischen Krimi. Dabei versucht er stets, die Perspektive der Zuschauer einzunehmen, die mit ihm den Film schauen: „Vor einem anderen Publikum wird die Musik anders.“

Wie oft er selbst die Werke vorher gesehen hat, ist ganz unterschiedlich. Schreibt er eine für Ensemble auskomponierte Filmmusik, sieht er sich einen Film sehr oft an. Dann ist es möglich, komplex zu arbeiten, Bezüge zu finden. Zu etwas nie Gesehenem live zu spielen, ist das andere Extrem, das öfter vorkommt, als man denkt. Schließlich gibt es viele historische Filme nicht auf DVD, und man kann sie manchmal auch nicht im Kino vorher sehen. „Die Spannung, die sich dann dadurch aufbaut, dass ich auch nicht weiß, was passiert“, sagt Bothmer, „überträgt sich auf das Publikum.“ Und diese Art von Spannung könne man nicht komponieren. Dann müsse man sich oft entscheiden, bevor man sieht, wo der Film hin will: „Jetzt ist genug mit lyrisch, jetzt mach ich was Dramatisches.“ Oft rät der Stummfilmpianist dabei richtig. Und wenn er mal falsch liegt, ist es auch nicht schlimm, sagt Carsten-Stephan von Bothmer, der seine musikalische Begleitung längst über den Stummfilm hinaus ausgedehnt hat. Zur Fußball-WM in Südafrika begleitete er in der Emmausgemeinde Spiele vor insgesamt 2000 Zuschauern. Zur nächsten EM ist das wieder geplant. Doch jetzt geht es erst einmal in den Berliner Dom, wo nicht der Flügel, sondern die Orgel vier Klassikern des Stummfilms Leben verleihen wird.

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