Zwischen Klischee und Wirklichkeit liegen oft Welten. Längst nicht alle italienischen Männer tragen Maßanzüge aus Mailand und fahren Vespa und sind charmant wie Angelo aus der berühmten Espresso-Werbung („Isch habe gar kein Auto“).
Andererseits gibt es Vittorio Grigolo, geboren 1977 in Arrezzo, der 2010 große Erfolge mit dem Album „The Italian Tenor“ feierte. Wobei nichts überflüssiger ist, als das „Italian“ im Titel, schließlich ist seine Herkunft schwer zu übersehen.
Die Arienauswahl von Verdi, Donizetti und Puccini auf der CD überrascht wenig, die Qualität hingegen schon. Grigolo, den bis zu seinem Einspringen für Rolando Villazón im Juni 2010 in Covent Garden kaum einer auf dem Zettel hatte, überzeugt als Rodolfo, Herzog von Mantua und Troubadour mit viel Volumen, Dramatik und dem gewissen Schmelz in der Höhe und weckt unter Belcanto-Fans die kühnsten Hoffnungen. Mittlerweile verzichtet kaum eine Rezension auf den Pavarotti-Vergleich, auch wenn dieser – je nach Kritikerlaune – noch unterschiedlich ausfällt.
Der Stimme hinzu gesellt sich ein junger Mann mit tiefschwarzen Locken, leichtem Teint und temperamentvollem Auftreten, der einem die Klischees locker bestätigt. Zwar vermutet man hinter Videos, auf denen Grigolo mit Sonnenbrille und weißem Anzug durch Rom schlendert oder eine Runde auf der Vespa dreht, eher eine Plattenfirma, die sich bemüht, dem Stereotyp des Italieners als bedingungslosem Romantiker Rechnung zu tragen. Doch dann setzt der Künstler selbst noch einen drauf. Beim Interview in Berlin – Grigolo erscheint in schwarzer Lederjacke – sprechen wir darüber, was Sänger anderer Nationen von den Italienern lernen können. Die Sprache sei gar nicht das Wichtigste, sagt Grigolo, sondern: „Sie müssen lernen, zu lieben. Wir Italiener sind richtige Liebhaber, keine Egoisten. Wir geben uns der Liebe nicht hin, nur weil es für uns selbst wichtig ist, sondern weil wir einen anderen Menschen glücklich machen wollen. So sind in Italien die Männer, die Romantik – und auch die Musik.“
Neben Liebe und Leidenschaft fällt im Gespräch oft das Wort „Natürlichkeit“. Seine Stimme sei immer bereit („Ich brauche kein Warm-Up!“), und überhaupt sei das alles weniger eine Frage der Stimmbildung denn der Natur. „Ich muss Gott danken, dass er mir gezeigt hat, wie ich meine Stimme benutze.“
Nun gehört zu einer Karriere auf den großen Bühnen wahrlich mehr als italienisches Blut und göttlicher Beistand – wobei das mit der Hilfe von oben gar nicht mal so abwegig ist, immerhin begann Grigolo seine Laufbahn als Knabenalt im Chor der Sixtinischen Kapelle. Es war aber auch der Vater, der ihm klassische Musik nahebrachte: „Er hat im Autoradio immer Opern gehört und mitgesungen“. Mit 13 stand Grigolo in Rom als Hirte in Tosca auf der Bühne neben Luciano Pavarotti, zehn Jahre später debütierte er als jüngster Tenor an der Mailänder Scala.
Einen Pop-Ausflug wagte er 2006, als das fürchterlich seichte Album „In the Hands of Love“ erschien – offenbar brauchte es da noch den Rat eines erfahrenen Sängers: „Er war unentschlossen, ob er Crossover machen sollte oder Oper“, verriet jüngst Plácido Domingo in einem Interview. „Da habe ich ihm gesagt: Vittorio, du kannst später machen, was du willst, aber erst machst du eine Opernkarriere!“
Die scheint nun mehr als ausgemacht. Sein mit Spannung erwartetes Debüt an der Met 2011 wurde in höchsten Tönen gelobt, weiterhin stehen u.a. Produktionen in Berlin, Zürich und Mailand auf dem Programm.
In der Rolle des Star-Tenors scheint er bereits angekommen zu sein. Als ich ihn nach dem Interview bitte, für einen Bekannten eine CD zu signieren, hat er sofort einen Filzstift parat, anschließend zückt er zwei Fotokarten aus dem Jackett, die er ebenso flink unterschreibt und mir überreicht. „Sie kennen doch bestimmt noch jemanden, der eine haben möchte, oder?“ Das Selbstbewusstsein kann sich Grigolo leisten, keine Frage.