Als sie zum ersten Mal Geige spielte, kam es ihr ganz leicht vor – fast so, als hätte sie es früher schon einmal gelernt. So beschreibt Ye-Eun Choi ihre erste Annäherung an das Instrument. Ihre Eltern waren zwar selbst keine Musiker, förderten aber das künstlerische Talent der Tochter und ermöglichten ihr neben Klavier- auch Ballettstunden. Als in ihrer Nachbarschaft eine Geigenakademie gegründet wurde, nahm sie dort Unterricht. „Nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, die Geige schneller und einfacher zu lernen als die anderen Kinder“, erzählt die Koreanerin.
Mit zehn Jahren hatte sie ihr Orchesterdebüt beim Seoul Philharmonic Orchestra. Da studierte sie bereits an einer der Musikhochschulen der Hauptstadt. Ihre Professorin dort lobte ihr Spiel und schätzte ihr außergewöhnliches Talent. So sehr, dass in Ye-Eun Choi das Gefühl entstand, dass sie ihre Professorin auf keinen Fall enttäuschen dürfe. „Ich habe teilweise bis zu zehn Stunden am Tag geübt“, beschreibt sie die Situation heute. „Am Tag vor dem Unterricht konnte ich wegen der Anspannung weder schlafen noch essen, weil es mir so wichtig war, den Anforderungen gerecht zu werden.“
Folgenreiche Einladung nach München
Trotz des Drucks hat sie weitergemacht. „Ich wusste, dass ich gut war, und es hat mir ja auch Spaß gemacht, Geige zu spielen.“ Das Instrument war bereits Teil ihres Lebens geworden. Und auch wenn sie über die Zeit spricht, ist kein Groll aus Chois Stimme zu hören. Mit sechzehn Jahren änderte sich Ye-Eun Chois Leben dann vom einen Tag auf den anderen: Nachdem Anne-Sophie Mutter eine Videoaufnahme der jungen Geigerin gesehen hatte, lud sie sie nach München ein.
Choi verließ ihre Heimat Seoul und blieb in München – bis heute. Anne-Sophie Mutter unterstützte sie dort, nahm sie mit in Konzerte und Kunstmuseen und steht ihr auch heute noch mit Rat und Tat zu Seite, nicht zuletzt, weil Choi Stipendiatin ihrer eigenen Stiftung ist. So richtig wurde München aber erst zur (zweiten) Heimat Ye-Eun Chois, als sie beim Verbier Festival Ana Chumachenco kennenlernte, die sie als Schülerin an der Hochschule für Musik und Theater aufnahm. „Ana ist nicht nur eine Lehrerin für mich, sondern Familie“, sagt die Geigerin. „Als sie mir den Vorschlag gemacht hat, bei ihr zu studieren, habe ich mich wahnsinnig gefreut. Das war ein großer Moment in meinem Leben.“
Beide Frauen halfen Ye-Eun Choi, ihre Liebe zum Üben wiederzufinden und vom Druck, der auf ihr lastete, loszukommen. Durch Chumachenco lernte sie außerdem neue und elementare Methoden und Techniken des Geigenspiels. Schon vom ersten Tag an fühlte Ye-Eun Choi eine große Verbundenheit zu ihrer Lehrerin: „Sie war anders als andere, aber ganz besonders und sensibel.“ Chumachenco lehrte ihre Schülerin auch, die Dinge nicht zu übereilen und sich nicht zu schnell in eine Karriere zu stürzen, um dann am Ende die Geige satt zu haben.
Zusammenarbeit mit namhaften Dirigenten
„Die ersten sechs oder sieben Jahre in Deutschland war ich sehr mit meinem Studium beschäftigt. Ana war es wirklich wichtig, dass ich so viel wie möglich lerne, bevor es zu spät dafür ist.“ Erst nach ihrem Abschluss 2014 konzentrierte sich Choi auf ihre Karriere. Durch Vorspiele lernte sie namhafte Dirigenten wie Yannick Nézet-Séguin, Christoph Eschenbach oder Manfred Honeck kennen, mit denen sie gemeinsam auf der Bühne stand.
Trotz zweier starker Unterstützerinnen und ihrer internationalen Karriere gilt Ye-Eun Choi in Deutschland noch immer als Geheimtipp. Was ihr nicht gerecht wird, denn die Geigerin überzeugt Kollegen und Publikum nicht nur mit ihrem warmen Klang und einer einzigartigen Spielart, sie ist auch eine offene, sympathische junge Frau mit einem herzlichen Lachen und einer einmalig ungebrochenen Liebe zu ihrem Instrument.